Textatelier
BLOG vom: 17.07.2014

Lebensbeichte – Fortsetzungsroman aus Nachlässen (10)

 
 
Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Vor dem Blatt 13 gab es wieder einen Hinweis auf ein paar Sätze in Fjodor Michailowitsch DostojewskijsAufzeichnungen“. Dort steht:
 
Indessen bin ich davon überzeugt, dass der Mensch auf wirkliches Leiden, das heisst auf Zerstörung und Chaos, niemals verzichten wird. Das Leiden – das ist ja der einzige Grund des Bewusstseins.“
 
Ich las weiter in der „Lebensbeichte“:
 
„Ich lief langsam zum Haus, in der die Familie lebte. Der Rucksack war schwer und zog. Er war wie ein schweres Los, das einen überkommt und von dem man sich nur schwer lösen kann. Die Gardinen waren vorgezogen, das Haus sah irgendwie verlassen aus. Heute würde es jemand verlassen, für immer. Verschwinden wie die Wolke, der ich eben in dem Boot nachträumte. Mit einem Unterschied: Etwas bleibt, Erinnerungen an Gespräche, daran, wie es gewesen und wie alles gekommen war. Dinge, die auf den hinweisen, der nicht mehr da ist. Der nichts mehr sagt, der keine Bedürfnisse und Wünsche mehr hat. Die Erinnerung wird verblassen, aber nie ganz erlöschen.
 
Elisabeth öffnete mir die Tür. Sie hatte ein dunkles Kleid angezogen und trug eine weisse Bluse. Ich hörte Musik aus dem Wohnzimmer. Es war eine ruhige Musik, Deutsch gesungen. Der Sänger hatte einen österreichischen Akzent. Ich ging hinein.
 
Alle waren um den Tisch versammelt, auf dem ein paar Kerzen standen. Die Schatten der flackerten Flammen erschienen an der Wand. Ich wurde begrüsst.
 
‚Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Wir wollen die letzten Minuten meines Lebens ein wenig festlich gestalten. In der letzten Stunde haben wir uns an mein Leben vor dem Unfall erinnert, an gemeinsam verbrachte fröhliche Stunden, an Feiertage. Ich will damit sagen, mein Leben hat sich gelohnt, es war lebenswert.
 
Und jetzt wollen wir Ludwig Hirsch zuhören. Das Lied heisst ‚Komm grosser schwarzer Vogel’ und es beschreibt ein wenig, was ich denke: 
‚Komm grosser schwarzer Vogel, komm jetzt!
Schau, das Fenster ist weit offen,
schau, ich hab Dir Zucker auf’s Fensterbrett g’straht.
 
Komm grosser schwarzer Vogel, komm zu mir!
Spann’ Deine weiten, sanften Flügel aus
Und leg’s auf meine Fieberaugen!
Bitte, hol’ mich weg von da!
 
Und dann fliegen wir rauf,
mitten in Himmel rein,
in a neue Zeit, in a neue Welt,
und ich werd’ singen, ich werd’ lachen,
ich werd’ ‚das gibt’s net’, schrei’n,
weil ich werd’ auf einmal kapieren,
worum sich alles dreht...’ 
Und am Schluss heisst es: 
‚Auf geht’s, mitten in den Himmel eine,
nicht traurig sein, na, na, na,
ist kein Grund zum Traurigsein!
Ich werd’ singen, ich werd’ lachen,
ich werd’ ‚das gibt’s net’ schrei’n.
Ich werd’ endlich kapieren,
ich werd' glücklich sein! 
Dann sagte er: ‚Ich danke Euch allen, für eure Geduld, für eure Pflege, dass ihr mich und meine Launen ausgehalten habt. Es soll genug davon sein. Ihr sollt wieder frei sein, tun was ihr wollt, nicht immer Rücksicht nehmen müssen auf den Krüppel bei euch zu Hause. Lasst uns auf das Leben anstossen! Und auf den Tod! Und auf das Nirwana, in das ich eintreten werde! Für mich ist das Nirwana nichts anderes als eine andere Dimension, eine Realität, die wir mit unserem Menschenverstand nicht erfassen können. Ich bin gespannt darauf. Ich werde endlich kapieren, endlich glücklich sein!’
 
Wir tranken, der Onkel nippte nur am Glas, das seine Schwester ihm an die Lippen reichte.
 
‚Unserem jungen Freund danke ich besonders. Ohne seine Hilfe würde das ganze Unterfangen zu schwierig werden, könnte die ganze Familie ins Unglück stürzen.’
 
Er sah mich an. Ich nickte nur.
 
‚Sie haben nicht zu befürchten, dass ich leiden muss. Gleich wird mir meine Schwester ein Beruhigungs- und Schlafmittel geben, ausserdem ist in dem Glas ein Antibrechmittel enthalten. Es wird meinen Magen daran hindern, das Mittel wieder nach oben zu befördern. Sie werden mir eine Flasche, in der ein Halm steckt, reichen, die mit 12 g Pentobarbital gefüllt ist. Wenn ich das geschluckt habe, werde ich einschlafen und innerhalb von 15–30 Minuten sterben. Ich werde keine Schmerzen verspüren, ich werde einfach hinübergehen. Der schwarze Vogel wird kommen und mich begleiten. Und innerlich werde ich den Übergang geniessen. Ich freue mich schon jetzt auf das Licht, das mich am Ende der schwarzen Röhre erwartet.’
 
Dann gab er seiner Schwester ein Zeichen. Sie nahm ein Glas, das bereits mit einer Flüssigkeit am Boden bedeckt war und reichte es ihm an die Lippen. Langsam trank er es, Schluck für Schluck. Es war der Beruhigungs- und Schlaftrank.
 
Die Musik wurde noch einmal angestellt. ‚Komm grosser schwarzer Vogel...’ Der Onkel sah mich an. ‚Jetzt!’ Ich nahm die Flasche. Es war eine Flasche, wie sie bei Infusionen im Krankenhaus benutzt werden, mit einem Aluminiumverschluss und Gummilamellen. Ich nahm das Metallröhrchen, das man mir reichte, schob es ganz nach unten in die Flasche, steckte sie unter die Decke, damit sie nicht verrutschen konnte und schob das Röhrchen in seinen Mund. Es war nur ein kurzer Augenblick. Er sollte mein Leben verändern. Aber daran dachte ich in diesem Moment nicht. Ehrlich gesagt, ich dachte an nichts, ich funktionierte nur. Der letzte Blick von ihm war sanft, voller Dankbarkeit.
 
Ohne Worte verliess ich das Wohnzimmer. Elisabeth küsste mich zum Abschied auf die Stirn. Ich nahm den Rucksack und ging durch eine Tür in den Garten und von dort auf einen Feldweg.
 
Seltsamerweise kam mir der Rucksack viel leichter vor als auf dem Weg zum Haus.
Ich hatte Last abgeworfen.“
 
Fortsetzung folgt.
 
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