Textatelier
BLOG vom: 07.04.2015

Das Mädchen Yde erzählt seine Geschichte aus dem Moor

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
„Lachen Sie nicht, glauben Sie mir einfach, sonst nichts! Ich muss Ihnen etwas gestehen: Ich bin die Moorleiche, vor der Sie heute hier in Assen/NL im Museum stehen! Vor über 100 Jahren haben Männer meinen Körper aus dem Moor ausgegraben. Und jetzt werde ich von allen Museumsbesuchern begafft. Sogar einen Namen haben sie mir gegeben, das Mädchen von Yde. Dabei gab es das Dorf, in dessen Nähe man mich gefunden hat, vor 2000 Jahren noch gar nicht! In meinem Dorf nannte man mich Iseabail, die Gottgeweihte.
 
Dann hat man meinen Körper untersucht und vermessen. Daraus hat man dann ein Gesicht geformt. So soll ich ausgesehen haben? Ich weiss es doch selbst nicht, ich konnte mich selbst nicht sehen. Nur lange blonde Haare, die hatte ich. Jetzt kann auch jeder nachlesen, dass ich nicht gesund war. Meine Wirbelsäule wurde verkrümmt. Das war, ich war noch klein, nach dem Hungerwinter; Scoliose nennt man das heute. Ich konnte nicht gerade laufen und humpelte. Und wie ich ums Leben kam, das wissen die Menschen auch. Das war nicht schwer, der Strick, mit dem ich erwürgt wurde, hängt noch um meinen Hals. 16 Jahre soll ich damals gewesen sein.
 
Ich war ein Krüppel. Eines Nachts kam der Priester zu mir. Ich durfte mich nicht wehren, ich weinte, und da war Blut. Er verbot mir, jemanden etwas sagen, sonst würde er mich verhexen, er hätte die Macht dazu. Dann redete der Priester mit den Obersten im Stamm. Jedenfalls wurde ich mit einem Mann zusammengetan, und der Priester hat uns verheiratet. Mein Mann hat für mich gesorgt, er hat gejagt, und wir hatten zu essen.
 
Nach einer gewissen Zeit bekam ich einen dicken Bauch. Wie und wovon, wusste ich nicht. Dann musste ich das Kind aus mir herauspressen. Es war tot. Alle haben sich furchtbar aufgeregt und mit Fingern auf mich gezeigt! Der Priester, dem wir immer zu den Gräbern der Ahnen, die unter den grossen Steinen, die ihr Hünengräber nennt, bestattet sind, folgen mussten, und der dort seine Zeremonie abgehalten hat, gab mir einen Kräutertrank. Ich müsse das trinken, hat er gemurmelt. Das Gift des toten Kinds müsse aus meinem Körper heraus. Er ist um mein Lager herum getanzt und hat mit den Ahnen geredet. Ich hatte Angst. Ich wurde krank.
 
In jenem Jahr, als ich die Totgeburt hatte, war das Wetter ganz schlecht. Das Getreide, das wir mühsam angebaut hatten, verfaulte auf den Feldern. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken. Der Sturm fegte über unsere Hütten hinweg. Der Gottesmann hob seine Hände zum Himmel und erbat besseres Wetter. Es war schwer, das Feuer zu bewahren, immer wieder drohte es zu erlöschen. Tag und Nacht musste es behütet werden. Das Brennholz war feucht und brannte nur ganz schlecht. Gut, dass wir noch ein wenig Torf aus dem Moor hatten, das trocken war. So konnten wir das Wild, dass die Jäger schossen, braten und litten nur wenig Hunger.
 
In diesem Jahr wurde keine der Frauen schwanger. Viele starben aus Erschöpfung. Dann kamen die Läuse, die überall waren. Ich kämmte und kämmte, aber sie kamen immer wieder. Eines Nachts brach ein Bär in unser Dorf ein. Er schlug meinen Mann nieder. Sein Bein war eine klaffende Wunde. Er wimmerte Tag und Nacht. Die Ratten frassen an unseren Vorräten. Auch der Priester konnte nur wenig helfen.
 
Ich sah, wie alle aus dem Stamm eine Versammlung abhielten. Mich hatten sie vorher festgebunden; ich durfte nicht dabei sein. Da ahnte ich, dass sie etwas mit mir vorhatten. Sie gaben mir die Schuld an allem. Ich hatte die Götter erzürnt, weil mein Kind in meinem Leib gestorben war. Weil die Götter mich verlassen hätten, wäre auch der ganze Clan von ihnen verlassen worden. Darum würden die Frauen nicht mehr schwanger. Alle beschimpften und verhöhnten mich. Ich sei verhext, ich brächte Unglück.
 
Der Priester sagte, wir müssten die Götter wieder gnädig stimmen, wenn sie uns weiter strafen, sei der ganze Clan verloren. Wir müssten alle sterben. Deshalb soll jemand geopfert werden. Das Opfer werde die Götter besänftigen. Sie bekämen eine Seele dafür.
 
Ich bekam grosse Angst. Ich wusste, wen sie opfern wollten. Ich wusste auch, dass es keinen Zweck hatte, den Worten des Priesters zu widersprechen. Er hatte die Verbindung zu den Göttern. Er wusste, was richtig war.
 
Ich hatte zur Hochzeit eine gewebte Decke bekommen, sie wärmte mich und ich liess sie nicht mehr los. Ich wollte nicht, dass eine andere sie bekäme. Aber die anderen wollten sie auch nicht, sie hatten Angst, der böse Geist in mir würde sich dann auf sie übertragen.
 
Eines Morgens war es so weit. Die Sonne war aufgegangen. Sie gaben mir genug zu essen. Es sei eine lange Reise, sagten sie, da müsse ich gut gegessen haben.
 
Dann stellten sich 2 Männer hinter mich und legten ein Seil um meinen Hals. Dann zogen sie zu. Es tat nicht weh, ich ging durch einen dunklen Tunnel. Dann sah ich Licht. Ich fühlte mich gut.“
 
***.***
Nachdem die Stammesältesten die junge Frau erwürgt hatten, wickelten sie die Leiche in ihre Decke ein und trugen sie zum Moor. Dort versenkten sie sie. Sie waren davon überzeugt, die Götter gütig gestimmt zu haben. Ein menschliches Opfer war das Höchste, was sie ihnen geben konnten.
 
1897 wurde der Leichnam aus dem Moor geborgen und dann in einem Keller vergessen. 1994 setzte man eine neue Software ein, womit ihr Aussehen rekonstruiert werden konnte. Die Leiche war nicht besonders hübsch und sah traurig aus.
 
Bei meinem Museumsbesuch habe ich still an der Glasvitrine, in der sie unter ihrer Decke aufgebahrt liegt, verweilt. – Ich weiss nur noch, dass ein Museumswärter mich berührt hat, ich müsse jetzt gehen, man wollte schliessen. Ich bin sicher, sie hat zu mir gesprochen!
 
 
Quelle
 
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