Textatelier
BLOG vom: 06.05.2015

Vielleser: Lesen als Sucht und als Vergnügen des Alters

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Vor einigen Tagen wurde ich gefragt, ob ich, da ich ein Vielleser sei, schon einmal einen Schnelllesekurs absolviert hätte. Das habe ich verneint. Schnelllesen würde ich als Sucht ansehen!
 
Menschen, die ein gewisses Alter erreicht haben, so meine ich, fragen sich häufiger als Jüngere, was sie in ihrem Leben noch erleben, erreichen oder einfach schaffen wollen, bevor die Kräfte schwinden oder die Krankheit zuschlägt. Wann das eintritt, ist nicht bekannt.
 
Die Zeit, so könnte man meinen, drängt. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, werden Wünsche rekapituliert, die in der Berufs- und Kindererziehungszeit zurückgesteckt werden mussten. Sind es viele Wünsche, muss ausgewählt werden, ob man sich sie wirklich erfüllen will oder kann.
 
Die Frage, was denn das Ziel des jeweiligen Unternehmens sei, das einen antreibt, stellen sich viele nicht. Sicher gibt es Erstrebenswertes darunter, aber bestimmt auch einiges, wo sich der alternde Mensch sagt, dass es sich nicht lohnt, sich dem damit verbundenen Stress auszusetzen. Eine Reise um die Welt kann reizvoll sein, aber muss es gleich um die ganze Welt sein? Ab und an reicht eine nicht zu anstrengende Reise in ein Land der Wahl aus. Man könnte sich auch Dokumentarfilme der Länder im Fernsehen anschauen oder sich durch die Lektüre von Büchern von dort träumen.
 
Also, was hindert mich daran, mich in meinen Sessel zu fläzen, mir ein Buch vorzunehmen und dieses Buch ohne Zeitdruck zu lesen? Dabei lese ich Bücher durchaus unterschiedlich:
 
-- Ein gutes belletristisches Werk lese ich gemächlich und Wort für Wort durch.
-- Bei einem Sachbuch wende ich eine andere Technik an: das globale Lesen, das gezielte Lesen nach dem Stichwortverzeichnis mit dem „Hineinschnüffeln“ in die anderen Teile des Buchs. Interessante Stellen unterstreiche ich. Beim erneuten Durchblättern lege ich besonderen Wert auf die Markierungen.
 
Diese Lesetechniken kann man sich leicht aneignen. Anleitungen gibt es genug, zum Beispiel die Abhandlung: „Wie man ein Buch liest“: „1. Lesestufe. Elementares Lesen, 2. Prüfendes Lesen, 3. Analytisches Lesen, 4. Synoptisches Lesen“ (Mortimer J. Adler & Charles van Doren).
 
„Es kommt nur darauf an, irgendwo zu beginnen, nicht, am Anfang zu beginnen: da es ja keinen Anfang gibt. ‒ Beim Lesen eines Buches, beim Studieren einer Wissenschaft, bei allen grösseren, wichtigen Unternehmungen. ‒ Zu warnen ist auch vor jenen Schriftstellern, die auf 5 Seiten nichts sagen, von denen man erst einen dicken Band gelesen haben muss, um sie zu verstehen“ (Ludwig Hohl).
 
Auf diese Art und Weise bin ich selten verlegen, zu einem bestimmten Thema etwas zitieren zu können oder etwas Eigenes beizutragen. Und das, ohne das Gefühl zu haben, ein Schnellleser zu sein, den ich nicht sein will.
 
Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Treffen mit einer Person, von der bekannt ist, dass sie „auf der Höhe der Zeit“ sein will und alles liest, was in den Medien und auch in Gesellschaften diskutiert wird.
 
Sie sind sich ziemlich sicher, sie wird, da es gerade aktuell war, das neueste Buch von Michel Houellebecq, „Unterwerfung“ mit Ihnen diskutieren wollen. Sie haben von dem Buch gehört, es aber nicht gelesen und momentan auch keine Lust dazu.
 
Wir leben in Zeiten des Internets. Geben Sie Autor und Titel in eine Suchmaschine ein, und Sie erhalten viele Informationen darüber. So lese ich bei Wikipedia: „In Houellebecqs neuem Roman ,Unterwerfung‘ (2015) zieht er fiktive Schlussfolgerungen aus der ‚unmöglichen Situation’ von Moslems in Frankreich, die in der bestehenden Parteienlandschaft nicht repräsentiert seien. Im Roman gewinnt eine fiktive muslimische Partei mit Unterstützung der Mitte-links-Fraktionen die Präsidentschaftswahlen 2022 und beginnt die Republik nach Massgabe ihrer Vorstellungen vom Islam zu reformieren. Houellebecq selber sieht seinen Roman nicht als islamfeindlich.“
 
Da weiss ich doch schon eine ganze Menge über den Inhalt. Zudem schaue ich noch auf einen Online-Diskussionsbeitrag, den DIE ZEIT ins Netz gestellt hat. Jetzt bin ich gewappnet!
 
Vor einiger Zeit habe ich ein Buch gelesen, das sozusagen eine Schulung dafür war: Pierre Bayard: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“. Der Titel weist allerdings nur auf einen Teilaspekt des Buches hin. Bei den „Arten des Nichtlesens“ behandelt der Autor Bücher, „die man nicht kennt, die man quergelesen hat, die man vom Hörensagen kennt, und die man vergessen hat“. Eine Zugabe ist noch der Bereich „Bücher erfinden“.
 
Bei meinem Gespräch mit dieser erwähnten Person werde ich einen Buchtitel einstreuen, der sich quasi an das Thema von Houllebecq anschliesst und der „seltsamerweise“ ein paar Monate früher erschienen ist. Es handelt sich um „Die Macht der Frauen – die Verweigerung“ von – so behaupte ich – Charlotte Roche, bekannt durch ihr Skandalbuch „Feuchtgebiete“.
 
Darin wird die Geschichte einer zwangsverheirateten Frau erzählt, die sich verweigert. Sie lässt sich einen Keuschheitsgürtel herstellen, der es dem Mann nicht ermöglicht, mit ihr zu schlafen, da der Schlüssel dazu nicht erreichbar ist. So kann sie ihrem Mann auch nicht den erwünschten Sohn gebären. Sie befürchtet, dass er sie misshandeln und einsperren wird; aber sie findet Mittel, sich dagegen zu wehren. Mithilfe des Internets macht sie ihre Situation bekannt und erhält Zuspruch aus der ganzen Welt. Am Ende trennt sich der Mann von ihr, und sie findet ihre „richtige“ Liebe.
 
Und sieheda: ich habe die Person richtig eingeschätzt. Sie ist einfach nicht in der Lage, zuzugeben, dass ihr das Buch noch nie vor Augen gekommen ist, obschon das unmöglich gewesen wäre, da ich das Buch erfunden habe. Doch hat sie sich immer damit gebrüstet, auf der Höhe der Zeit zu sein. Und so diskutiert sie mit mir, wie realistisch die Situation geschildert wird, ob ein Mann sich so etwas gefallen lässt und überhaupt, dass es eine lesenswerte, spannende Geschichte sei! Ein köstliches Erlebnis für mich!
 
„So ist dieser virtuelle Roman ein Tummelfeld der Täuschungen, in dem die Beteiligten, bevor sie die anderen täuschen, vor allem sich selbst täuschen, da die Erinnerungen, die sie an Bücher haben, davon bestimmt sind, was in einer bestimmten Situation gerade auf dem Spiel steht. – Diese Angst vor dem Wissen des anderen ist jedoch im Hinblick auf Bücher vor allem ein Hindernis für jede wahrhaftige Schöpfung.“ (Bayard)
 
Wie Sie sehen, führt das Nichtlesen sogar dazu, selbst etwas zu erfinden, die eigene Phantasie anzuregen. Wozu also Schnelllesen? Dass das übermässige Lesen auch krank machen kann, hat schon S.A. Tissot im Jahre 1768 in seinem Buch „Von der Gesundheit der Gelehrten“ ausführlich beschrieben. Psychologen der Sigmund-Freud-Universität in Wien haben 2009 eine Studie zum Lesesuchtverhalten von Jugendlichen im Durchschnittsalter von 14 Jahren durchgeführt und sind zum Ergebnis gekommen, „das Lesen von Büchern als Krankheit zu betrachten und die Therapie dagegen von den Krankenkassen zu bezahlen“ sei. 12 % der etwa 1000 befragten Jugendlichen wiesen ein pathologisches, also krankhaftes Leseverhalten auf.
 
Ich bin diesem Alter längst entwachsen. Der Konsum vieler Karl-May-Bücher und andere Werke hat mich damals nicht süchtig gemacht. Ich jedenfalls fürchte nicht, vom „übermässigen“ Lesen krank zu werden. Denn neben dem „Abtauchen“ in fremde Gedankenwelten vergesse ich nicht, dass es noch viele andere interessante Beschäftigungen gibt!
 
Es ist immer eine Definitionssache, wo eine Sucht beginnt!
 
 
Quellen
Tissot, S.A.D.: „Von der Gesundheit der Gelehrten“, Zürich, 1768.
Hohl, Ludwig: „Vom Erreichbaren und vom Unerreichbaren“, Suhrkamp,
Frankfurt/M., 2014.
Adler, Mortimer J. & Van Doren, Charles: „Wie man ein Buch liest“, 2001-Verlag, Frankfurt/M., 2007.
Bayard, Pierre: „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“, München, 2009.
 
 
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