Textatelier
BLOG vom: 21.05.2015

Leonhard Jost, zu dem man gern wieder in die Schule ginge

Autor: Pirmin Meier, Gymnasiallehrer und Autor, CH-6215 Beromünster LU/CH
 
 
Leonhard Jost, geboren am Jakobstag 1923 (25. Juli) in Steffisburg/BE, verstorben am 15. Mai 2015 (Kalte Sophie) im Haus Martin an der Dorneckstrasse in Dornach/SO, war ein Schweizer Pädagoge, Germanist, Gymnasial- und Seminarlehrer, Autor, Chefredaktor der Schweizer Lehrerzeitung, Vorsitzender des Lehrervereins und Präsident der Aargauischen Kantonalen Lehrerkonferenz. Darüber hinaus war er ein charismatischer Schulmeister mit Lebenserfahrung nicht nur auf pädagogischem Gebiet. Herausragend war seine stupende humanistische Bildung. „Zu Ihne würd ich gäng wieder i d’Schuel ga!“, sprach ihn mal ein ehemaliger Schüler auf der Strasse an.
 
Jost gehörte zu den berufenen, begeisterten und begeisternden Lehrern, welche vor lauter Erfüllung durch ihre Berufung kaum je dem nächsten Ferientermin entgegengefiebert haben. Dass er trotz seiner Leidenschaft für das Unterrichten den Vorsitz des Lehrerinnen- und Lehrervereins übernahm, hing mit Entwicklungen zusammen, die ihn lange vor dem Ende seines Lebens mit einer gewissen Besorgnis erfüllten und die er auf Dauer trotzdem nicht zu steuern vermochte.
 
Dabei war der Humanist und Pädagoge Leonhard Jost keineswegs ein Kulturpessimist. Es war ihm aber klar, dass die in den letzten Jahrzehnten abnehmende Attraktivität des Lehrerberufs weder mit dem Lohn noch mit zu grossen Klassen noch mit dem Feminismus noch schlicht mit der „Reformitis“ zu tun hatte, sondern auf tiefere gesellschaftliche und bildungspolitische Strukturen zurückzuführen ist. Seine Grundhaltung als Pionier des verlebendigenden Unterrichts ging nicht von behavioristischen und materialistischen Qualitätssicherungsmodellen aus. Eher schon vom Klima und dem Geist, wie er im Schulzimmer und im Schulhaus herrschen könnte. Eine Lehrerin oder ein Lehrer, deren Herz voll ist und die aus dem unerschöpflichen Geist des Humanismus und der Aufklärung schöpfen, vermögen auch unter nicht optimalen bildungspolitischen Bedingungen fruchtbar zu wirken. Wir leben – wenigstens im Prinzip ‒ in keiner bildungsfeindlichen Zeit, im Gegenteil. Für Leonhard Jost bedeutete aber Bildung nicht „Rohstoff“, dessen Ausbeutung mittels rein materieller Investitionen zu garantieren wäre. Man kann, wie hochgebildete, sprachgewaltige und auch ethisch fundierte Gelehrte, so der Theologe, Arzt und Musiker Albert Schweitzer oder eine Geistesgrösse wie der Wirtschaftstheoretiker Wilhelm Röpke, in einem umgebauten Rossstall Platon gelesen haben mit einer Orientierung, wie sie in Schulgrossbetrieben nur noch in Glücksfällen vermittelt wird. Auch die besten Lehrerlöhne der Welt und ein hoher Frauenanteil bei den Lehrkräften können den pädagogischen Eros nicht erzwingen. Wem gelingt es schon noch, heutige Schülerinnen und Schüler für den „Grünen Heinrich“ von Gottfried Keller zu begeistern?
 
Für Leonhard Jost, der ab den fünfziger Jahren am Aarauer Lehrerinnenseminar (heute: Neue Kantonsschule) unterrichtete sowie an den Frauenschulen Brugg, war dies kein Problem. Auf einer Foto des Lehrerinnen- und Lehrerkollegiums des einstigen Lehrerinnenseminars Aarau sehen wir ihn als attraktiv gekleideten Junglehrer gleich neben dem genialen Aargau-Geographen und Autor Charles Tschopp abgebildet sowie neben Rolf Zschokke, einem seinerseits glänzend publizierenden lehrbegabten Nachkommen von Aaraus Stadtvater und Bildungspionier Heinrich Zschokke. Das war also das Niveau, noch in den sechziger Jahren des vorigen 20. Jahrhunderts für Aargauer Landmädchen offenbar gerade gut genug. Jost war in der Lage, von Paul Hallers „Juramareili“ über die Kinderverse von Sophie Hämmerli-Marti (einer Freundin Frank Wedekinds) bis hin zu Franz Kafka schöne Literatur so zu vermitteln, wie es nach der Pensionierung von Peter von Matt in der Schweiz nicht mehr sehr häufig vorkommt. Stets machte er sich aber klar, dass er künftige Lehrkräfte ausbildete. Also bestand zu seiner Zeit ein vergleichsweise klareres Bildungsziel als in einem Allerweltsgymnasium von heute, wo man lieber von Chancen als von Geist spricht. Jost verfügte über denselben, und er vermittelte ihn. Den Beruf des Lehrers bezeichnete er in einem Radiointerview als seinen „Traumberuf“.
 
Leonhard Siegfried Jost wuchs im Berner Oberland in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Früh verlor er seine Mutter. Als sein Vater ein zweites Mal heiratete, kam bald darauf die Stiefmutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Im Jahre 1939, bei Kriegsausbruch, besuchte Jost nicht etwa ein herkömmliches Gymnasium, den für Berner Eliten vorgesehenen „Gymer“, sondern die erste Klasse des Lehrerseminars in Hofwil. Als er am 1. September gerade von einer Exkursion zurückkehrte, wurde allgemein mobil gemacht. Im Gegensatz zu damals noch zahlreichen Lehrern zog es ihn nach der Rekrutenschule 1943 nicht in die Schweizer Offizierslaufbahn. Er wurde zum Grenzwachdienst einberufen. Dies führte im kriegsverschonten Land zu vergleichsweise konkreten Erlebnissen, auch zu lebenslang nachwirkenden Kameradschaften. Im englischen Leeds trat Jost 1947 einem Camp des Service Civil International bei. Hier betätigte er sich zeitweilig mit dem Maurerhandwerk, gemäss der Losung des von ihm lebenslang verehrten Pestalozzi: „Kopf, Herz und Hand“.
 
Die weitere subakademische Karriere von Leonhard Jost führte via Schulpraxis vom Primarlehrer zum Sekundarlehrer bis zum Universitätsstudium bei Prof. Walter Henzen (1894–1965) in Bern, einem volkskundlich und mundartwissenschaftlich orientierten Germanisten, dem besten Kenner des Sensler Dialekts, 1946 Nachfolger des berühmten, etwas nazistisch infiltrierten Helmut de Boor. Bei Henzen dissertierte er mit der Arbeit „Sprache als Werk und wirkende Kraft“, welche dank brillanter Formulierungsgabe dann im Buchhandel erschien. Später publizierte er unter anderem noch zu pädagogischen Themen „Perspektiven und Horizonte“ (Verlag Haupt 1976), Eltern und Schule im Dialog (Haupt 1985) sowie zu den Thematiken „Schülerprobleme heute“ (1979), „Alternative Schulen“ (1980), „Schule, Schüler und Lehrer“ (1981), ferner eine Monographie über den pädagogischen Klassiker Eduard Spranger (1983). Auch als Herausgeber der Schriften von Heinrich Pestalozzi betätigte er sich. Jost gehörte viele Jahre lang zu den ausstrahlungsmächtigsten Kursleitern der Lehrerfortbildungsorganisation „Verein für Handarbeit und Schulreform“, heute „Schule und Weiterbildung Schweiz“ SWCH.
 
Leonhard Jost war mit der Lehrerin Elisabeth Zeller verheiratet, die ihm fünf Kinder gebar und die er vergleichsweise früh durch Tod verlor. Er war überdies ein Pionier europäischer „interkultureller“ Pädagogik, wenn man dies so nennen darf, und zudem der wichtigste westeuropäische Vermittler des polnischen Pädagogik-Pioniers Janusz Korczak (1878–1942), welcher, ermordet in Treblinka 1942, als polnischer Pestalozzi gilt, mit vergleichbaren Waisenhauserfahrungen wie der Schweizer 1799. Jost gründete die schweizerische Korczak-Gesellschaft und war bis zuletzt deren Vizepräsident. Einen weiterführenden Essay Josts zum Thema Korczak kann man auf der Website des Vereins „Pestalozzi im Internet“ von Arthur Brühlmeier nachlesen.
 
Mit Leonhard Jost hat die Schweiz einen einzigartigen Pädagogen und Didaktiker verloren, einen vorbildlichen Menschen und Gelehrten, nicht zuletzt einen exzellenten Lehrer und Bildungspolitiker. Leonhard Jost verdient das ehrende Andenken der schweizerischen und europäischen pädagogischen Provinz.
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PS von Pirmin Meier. Der Verfasser dieses Porträts, der den Verstorbenen über den Verein „Pestalozzi im Internet“ persönlich kennenlernte, war nicht dessen ehemaliger Schüler. Dafür dessen fein gebildete Ex-Frau Elisabeth Meier-Reist. Sie schrieb mir vom Seminar aus begeisterte Briefe über Franz Kafka und „Tonio Kröger" von Thomas Mann und lobte den herausragenden Unterricht bei Dr. Leonhard Jost und Dr. Gustav A. Lang. 
 
 
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