Textatelier
BLOG vom: 13.08.2015

Impressionen zu Alois Maria Haas: „Mystische Denkbilder“

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland
 

Momentan lese ich in dem Buch von Alois Maria HaasMystische Denkbilder“; gerade ich, der sich als allzu rational denkender Mensch vom christlichen Glauben abgewandt hat! Bei Mystik, Erscheinungen und Entrückungen kommen mir eher physiologische, chemische und psychologische Prozesse, die im Gehirn und sonst wo im Körper ablaufen, in den Sinn, keine „transzendenten Einflüsse“. Nicht von ungefähr lassen sich „Hirngespinste“ durch Drogen aller Art, ich denke hier an XTC und andere, hervorrufen. Unser menschliches Gehirn ist so ein komplexes Gebilde, dass seine Funktionsweise (inklusive der „Fehlschaltungen“) längst nicht ausreichend erforscht ist und noch viele Erkenntnisse an den Tag zu bringen sind. Erlebnisse wie innere Stimmen, Träume, Nahtoderfahrungen, Aufstiege in himmlische Sphären oder Abstiege in die Hölle (Dante!) sind, meiner Meinung nach, wie auch sogenannte Wunder und Spontanheilungen, Produkte der Psychosomatik im Körper derer, die diese erleben. Menschliche Phantasie und unbewusst ablaufende Prozesse sind unerschöpflich und das Wissen über das Zusammenspiel zwischen Geist und Körper bedarf noch vieler wissenschaftlicher Forschungen.

Mein Interesse an diesem 823 Seiten „schweren“ Buch ist vor allem aus der Sicht der philosophischen Anthropologie, die sich mit dem Wesen des Menschen befasst, zu erklären. Und dazu finde ich in diesem Buch viele Ansätze.

Zuerst einmal ganz kurz etwas zum Autor Alois Maria Haas. Geboren am 23.02.1934 ist er lt. Wikipedia ein Schweizer Germanist, katholischer Intellektueller, Philosoph, Literaturwissenschaftler und Mystikforscher. Bis zu seiner Emeritierung 1999 lehrte und forschte er als Professor an der Universität in Zürich. Er befasst sich schon jahrelang mit abendländischen Spiritualgeschichte, religionsphilosophischen Fragen und der theistischen und atheistischen Mystik. Es ist eine enorme Leistung, im Alter von 80 Jahren (das Buch ist 2014 erschienen) ein so umfassendes Werk zu schreiben!

Das Werk hat 3 Kapitel, die mit „Mensch“, „Welt“ und „Gott“ überschrieben sind.

Mein heutiger Text darüber soll keine Rezension sein, dafür müsste ich das Thema „Mystik“ und ausserdem Philosophie und Theologie studiert haben. Das Personenregister der Zitate am Ende des Buches umfasst 8 Seiten und nicht wenigen Autoren bin ich zum ersten Mal begegnet.

Obwohl die „Mystik“ vom Autor aus nie aus dem Blick gerät, sind einige Abhandlungen in diesem Buch, besonders in den ersten 2 Kapiteln, aber auch gegen Ende zu, höchst interessant und lesenswert auch für einen Leser, den mit christlichem Glauben und Mystik nur wenige Anknüpfungspunkte verbindet. Der Autor zitiert zum Beispiel häufig Autoren der griechischen Antike, ohne die unsere heutige Weltsicht und Bildung nicht denkbar ist.

Haas kritisiert aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus die heutige Zeit: Er diskutiert die Bezeichnung „Subjekt“: ein „hybrider Begriff (aus lat. hybrida = Mischling, sozial und rassisch) mit einem ramponierten semantischen Design“, für den es keinerlei Konstanz mehr gäbe.

„Heute leben wir tatsächlich in einem Potemkinschen Weltdorf, das reiner Schein ohne einen Schimmer fassbarer Inhalte darstellt. Und daher ist der Subjektbegriff einem Pathos unterstellt, das ihn einzelnen Gruppen, die den Freiheitsgestus zelebrieren, empfehlenswert, andern dagegen, die zu Formen auch Inhalte fordern, verdächtig werden liess und noch lässt. Wenn noch im Jahr 2008 mit philosophischem Aplomb versichert werden kann:’…das Subjekt verdrängt Gott’ (Zitat aus „Das Absolute und das Subjekt“ von Gunnar Hindrichs), dann ist eine Gefahr für eine gottbezogene Existenz signalisiert, die sich auch im subjekttheoretischen Diskurs niederschlagen müsste“, denn ohne Gotteserkenntnis könne keine Selbsterkenntnis gedacht werden.“ (S.31)

Argumenten der Atheisten oder Agnostiker gegenüber ist Haas nicht aufgeschlossen, im Gegenteil:

„Es zeichnet sich eine geistige Wende ab im Diskurs der postmodernen Matadoren. Zusammen mit Bestrebungen militant atheistisch und reduktionistisch gestimmter Neurobiologen und Hirnforscher, die in nahezu gespenstisch wirkender Weise auf den geistigen Spuren von Ernst Haeckels (1834-1919) ‚Welträthsel’ (1899) wandelnd über 100 Jahre später den nach Freud zwei grossen Kränkungen der Menschheit durch Kopernikus und Darwin eine neurobiologische Kränkung durch konsequente Demaskierung supranaturalistisch-idealistischer Denktendenzen beifügen möchte, präsentiert sich eine geistige Szene voller aufgeklärter Denk- und Redeverbote, die der jede die WELT übergreifende denk- und erfahrbare Transzendenz als Grenzüberschreitung abgeschmettert wird.“ (S. 429)

Die Rede von ‚Transzendenz’ habe es „angesichts des vorherrschenden Gewichts lastender Immanenz und Kontingenz“ nur schwer, überhaupt in Erwägung gezogen zu werden. Es bestehe die Dominanz eines autoritären Automatismus, die Rede vom Absoluten durch die Surrogate Geld, Sex, Gewalt, usw. zu substituieren, „so dass man mit Adorno von einem „Verdampfen der Transzendenz“ (Zitat aus Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, 1975) sprechen kann.“

So ist es verständlich, dass ich im Buch von Haas Zitate aus Schriften von Günther Anders, ich denke hier z.B. an „Ketzereien“; Hans Albert, („Traktat über kritische Vernunft“); Richard Dawkins („Der blinde Uhrmacher“ u.a.); Karlheinz Deschner („Kriminalgeschichte des Christentums“) und von anderen, dem Christentum kritisch bis ablehnend gegenüber stehenden Schriftstellern, nicht finde. 

Haas beugt sich aber dem „Trend“ nicht:

„Es bleibt aber heute in jedem Fall der von Denk- und Sprechverboten der neuklerikalen Fürsprecherequipe einer fröhlichen Endlichkeit unverstellbare Zugang zu den Quellen sapientialen (= v.a. religiös weisen, R.G.B.) Wahrnehmens und Denkens offen, in dem die Transzendenz als eine immer wieder offene Hoffnungsperspektive der ‚übervart’ (Meister Eckhart) von der Ende der Immanenz in die Weite als eine ‚dilatatio cordis’ (eine Dehnung des Herzens) erfahren werden kann.“ (S. 430)

Im Abschnitt „Buch“ bricht der Autor eine Lanze für auf Papier Gedrucktes:

„Das Buch als Medium wird sich aufgrund seiner Gegenständlichkeit seinen Rang von keiner Elektronik verdrängen lassen“, und zitiert damit Umberto Eco, „der es wissen muss.“

Der Autor hebt das Buch, (ich würde es neudeutsch ‚Printmedium’ bezeichnen) in ‚den Himmel’:

„In dieser Sicht ist das Buch ein ‚metaphysischer’ – und damit ein über sich hinausweisender Gegenstand von nahezu ‚religiös-numinoser’ Bedeutung.“ (Den Begriff zitiert er aus: Micha Brumlik, ‚Schrift, Wort und Ikone’, Frankfurt am Main 1994)

Es ist offensichtlich, digitale Medien sind Haas suspekt, die sich, so argumentiert er, „in ihrem ’Machtanspruch’ (Begriff in: ‚Offenbarung durch Bücher’, hg. Von Walter Seidel, Freiburg, 1987) bis zur gegenseitigen Selbstaufhebung zu überbieten versuchen.“ Und er wünscht sich, dass eine „Bereinigung der herrschenden anarchischen Situation“ die Medienwelt in vollem Ernst zwinge, „alle Gier nach Überangebot, Schnelligkeit und Beschleunigung im Projekt Vernunft neu zu überdenken.“ (S.152)

In diesem Zusammenhang ist ein vom Autor verfasster Artikel in der NZZ vom 01.12.2007 interessant, in dem berichtet wird, dass er seine private Bibliothek von 40 000 Büchern der neu gegründeten Universität Pompeu Fabra in Barcelona unter der Bezeichnung „«Bibliotheca Mystica et Philosophica Alois Maria Haas», untergebracht in einem Wasserschloss nahe des Campus, überlassen hat.

Auch in diesem Artikel hebt er die „jenseitige“ (sic!) Bedeutung von Büchern hervor:

„Der Gedanke, dass das Jenseits ertragbar wird im Gedanken, dass es dem unterirdischen Bookstore der University of Chicago vergleichbar ist, schien mir immer Ansporn genug, mich schon im Diesseits darauf vorzubereiten. Zentrum meiner Bemühungen waren natürlich die Grundtexte der deutschen und der französischen Literatur, vor allem aber – eigentlich seit meiner Habilitationsschrift über die Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse (1969) – die Textausgaben und die entsprechende Forschungsliteratur zu den genannten Dominikanermystikern aus dem 14. Jahrhundert.“

(Ich komme nicht umhin, aus dem kleinen Mailabtausch zwischen dem Schwiegersohn des verstorbenen Website-Gründers Walter Hess, und mir zu zitieren, in dem er davon ausgeht, dass der Schwiegervater im Jenseits „zwischenzeitlich einen Internetanschluss bekommen hat und wieder mitlesen kann.“

Ich gehe beim letzteren Vermerk nicht davon aus, dass die Bemerkung ernst gemeint ist, aber bei Alois Maria Haas bin ich mir mit dem Bezug zum Jenseits nicht sicher! (Und wenn er dort nur „E-Books“ findet?)

Unter dem Begriff „Selbstverwirklichung“ enthält das vorliegende Buch von Haas gleich zwei Unterkapitel unter dem Abschnitt „Mensch“.

“Selbstverwirklichung” sei ein bedeutungsschweres Wort, und der Autor möchte zwei Aspekte ins Licht rücken: die theoretisch-philosophisch-ideengeschichtliche Bedeutung unter Einbezug philosophischer und theologischer Einsichten und zweitens dessen praktische Anwendung im Bereich der Lebensbeschreibung in künstlerisch-literarischer Absicht.

Selbstverwirklichung sei die von ihm gemeinte Verpflichtung auf eine tätige Umformung seiner selbst. Unter dieser Definition geht er auf Pindar (c. 438 v.Chr.) zurück und zitiert ihn in neuer Übersetzung mit dem Satz: „Weise, wer vieles weiss aus dem, wie er ist.“ Einige Jahrhunderte später ist es

„Plotin (etwa 205-270), (.) einer der ganz grossen Promulgatoren dieses Problembereichs, dem er im Hinweis auf die gebotene Wendung des Ichs nach Innen eine Richtung auf die Transzendenz in Selbst anweist, so dass der Weg zur Selbstaufgabe im Einen offen ist.“ (S. 266)

Haas weist darauf hin, dass Selbstverwirklichung in verschiedenen Zeiten sehr Verschiedenes meint und sehr verschiedenen inhaltlichen Tendenzen untersteht. Für die heutige Zeit zitiert er ausführlich aus dem Buch „Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins“, Berlin 1982 von Michael Theunissen, der mit dem Begriff „die Selbstentfaltung des Individuums, geradezu im Sinne einer Vereinzelung, ja des Autismus“ verbinde.

Im katholischen Christentum hingegen, so Haas, habe „die Sprache der Selbstverwirklichung“ immer eine wichtige und positive Rolle unter dem Titel ‚Selbstvervollkommnung’ (perficere/perfectio) gespielt. Denn:

Der Christ bekommt eine Biographie, weil er in Christus eine Geschichte bekommt. Wenn es auch Jahrhunderte gedauert hat, bis das Christentum realisiert hatte, dass die Menschwerdung Gottes eine wahre Menschwerdung in Geschichtlichkeit auf für den Menschen begründet, so ist doch dieser Gedanke sehr ernst zu nehmen.“ (S.268)

(Ob die Opfer von Kindesmissbrauch durch Angestellte der katholischen Kirche auch so denken?)

Teil 2 der “Selbstverwirklichung” geht auf die Bedeutung des Wortes und auf den Unterschied zwischen den Begriffen Biographie und Lebenslauf ein.

Es ist unbestritten, Selbstverwirklichung kann sich faktisch nur in einem menschlichen Lebenslauf vollziehen. Sie gehöre, so Haas, daher auch wesentlich in die Beschreibung eines Lebenslaufes. Die Idee der „Ganzheitsgestalt unseres Lebens“, die „oft unausgesprochene Leitbildhaftigkeit einer Ganzheit unseres Lebens“ ist aber eher in Biographien zu finden. Denn:

„Es ist dem Menschen ein absolut wichtiges Anliegen, dass sein Lebenslauf einen Sinn hat. ‚Sinn’ heisst ursprünglich ‚Weg’ und ein Weg führt vom Punkt A zum Punkt B (und von B zu C, usf.); erst dann ist es ein sinnvoller Weg. – Wenn das so ist, dann lohnt es sich allerdings, die geschriebenen Biographien, noch besser die Autobiographien zu lesen und aus ihnen zu entnehmen versuchen, in welcher Weise die Menschen den Rohstoff ‚Leben’ in Sinn (= ‚Weg’) überführt haben.“ (S.271)

Ein paar Sätze weiter relativiert er den Sinn:
„Selbst die offensichtliche Sinnlosigkeit eines Lebens gewinnt in der Erzählperspektive das Explosive einer höheren Sinnhaftigkeit.“

Haas meint die Tragödie „und ihre reinigende Wirkung“. Vermutlich denkt der Autor an die Tragödien um berühmte Gestalten wie Ödipus, Orestes, Hamlet und Maria Stuart, in denen also jemand „den Sturz aus grosser Fallhöhe erlebt und ‚schuldlos schuldig’“ wird, wie der Begriff bei Wikipedia erläutert wird.

Interessant ist der Aspekt bei Haas, dass das Entscheidende nicht das sei, was wir objektive Wahrheit nennen, sondern das, was im Lebensrückblick subjektiv als „lebenbildende Ganzheit“ in den Blick rückt. Haas verweist dabei auf das Beispiel des „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz. An diesem Roman, der mit der Bezeichnung „autobiographisch“ versehen ist und in der der Protagonist nach der Studie von Hans Jürgen Schings: „Melancholie und Aufklärung“ im Koordinatensystem „Schwärmerei-Unterdrückung-Melancholie“ agiert, sei geeignet zu zeigen, „wie sich ein Lebenslauf im Blick auf interne und externe Ereignisse, Zufälle, Lebensbedingungen während der Zeit der deutschen Aufklärung ausgestalten und deuten liesse.“ (S.272) Die Deutung des Lebenslaufes wird dann zu einer Autobiographie!

„Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn sich die Menschen untereinander als Identitäten im Sinn von anerkennenswerten ‚Biographien’ akzeptieren. Dass dies möglich ist, setzt ein eindrücklich entwickeltes Vermögen der Menschen voraus, einander auf der ‚Biographie’ und nicht des ‚Lebenslaufes’ zu begegnen.“ (S. 279)

Das lässt sich meines Erachtens durchaus in Frage stellen. Ich kann mir Vieles einbilden, habe meine eigene persönliche Wahrnehmung in Bezug auf Niederlagen und Siege, Chancen und Verluste. Alles das kann ich kommunizieren und darauf hoffen, dass man meine Darstellung akzeptiert! Ein Personalchef würde nicht darauf vertrauen! Und wenn er auf einen Lebenslauf mit überprüfbaren Dokumenten besteht, „funktioniert Gesellschaft“ ebenso.

Haas verfolgt das Thema auch im Kapitel „Ereignis“. Er bezieht sich dabei auf Alois Hahn, „Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologe, Frankfurt a.M., 2000. Haas erkennt durchaus, dass die Biographie eines Bankmanagers für ihre gesellschaftliche Approbation anders aussehen müsse, als die eines Dichters:

Die erste muss brav, solid und zuverlässig tönen (Lehre, Studium positiv abgeschlossen), die zweit genannte kann und soll durchaus abenteuerliche Momente enthalten (beispielsweise 3 Jahre Arbeit in einem Bergwerk, 2 Jahre als Schiffskellner, 1 Jahr Bodygard etc., ab 1999 Erfolge als Schriftsteller in der internationalen Szene). Im Wechselspiel von persönlichen Ambitionen und gesellschaftlich über die Medien vermittelteten Leitbildern wird dann eine Biografie ausgeformt, die den Sinn des Lebens ausmachen soll.“ (S. 320)

Es gäbe „verborgene und komplexe Zusammenhänge“ zwischen Lebenslauf und Biographie. Wolle man sie aufdecken, könne man sich bestimmten „extraterritorialen Bezirken“ (der Begriff ist zitiert aus dem Text von Hahn) bedienen. Früher seien es die Beichte und die Inquisition im Abendland gewesen, heute deren Erben: die Couch des Analytikers und der Psychotherapeuten, die Gerichte, schliesslich der ganze gigantische Apparat der kommunikativen Erfassung und Registrierung von Individuen im Rahmen eines zivilisierten Regimes. (S.322)

Das ist ein interessanter Gedanke: Inquisition und Beichte neben Analytiker und Facebook usw. oder entsprechende Shows im Fernsehen („Superstar“, „Reality-Shows“) zu stellen, in denen die gleichen Absichten verfolgt wurden und werden, wobei allerdings der Machtanspruch der Kirche nicht mit dem der Medien gleichzusetzen ist!

Es gibt noch weitere Kapitel und Abschnitte in diesem Buch, die ich hochinteressant finde. Ein Unterkapitel unter dem Begriff „Gott“ befasst sich mit dem „Sprung“. Hier ist nicht nur der physikalische Sprung gemeint, sondern auch der Sprung in seiner „geistig metaphorischen Bedeutung, der seit der christlichen Antike als ‚Transzendenz’ bezeichnet wird. Das lateinische Wort ‚transceder’ bedeutet in einem umfassenden Sinn von seiner wörtlichen Semantik her: ‚hinübersteigen’, ‚hinüberspringen’, ‚überschreiten.“  (S. 576)

Gemeint ist also das Hinausgehen über die Grenzen sinnlicher Erfahrung, des Bewusstseins oder über die Welt des Diesseits.

Der Autor befasst sich mit den Homerschen Hymnen, darin mit der Geburt Apollons, seinem Sprung vom Schiff an den Strand von Krisa und zurück. Es folgen Sappho und ihr Sprung vom Leukadischen Felsen, Empedokles Sprung in den Ätna, die Chaldäischen Orakel  mit dem Vatergott, dem „in einer kraftvollen Absicht Ideen hervorsprangen“, so geht es weiter zu den Oden Salomons, anderen Dichtern, dem „Nibelungenlied“ und zu Heinrich Seuse.

Ausführlich widmet Haas sich Nikolaus von Kues und der folgenden europäischen Geistesgeschichte.

Interessant ist ein Abstecher zu den dem Zen-Buddhismus angehörigen Dichtern Japans, Bashô, Dôgen und Ryôkan.

Haas diskutiert bei  Kierkegaard den „Sprung des Glaubens“ und zitiert dazu u.a. Christa Kühnhold in ihrer Einführung in Kierkegaard („Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens“, Berlin 1975):

„Der Gedanke von Gott kommt durch einen Sprung hervor. Das Ergebnis (resultare zurückspringen) aus den Beweisen für Gottes Dasein geschieht durch einen Sprung. – Die Weise, in der Hegel die schlechte Unendlichkeit abbricht, ist ein Sprung. – Sprung des Schuldbewusstseins… Sprung der Versöhnung.“ (S. 630)

Der Abschnitt endet mit Jean Paul und „seinem Strukturmodell eines bildlichen Witzes, das als ‚Heuschreckensprung’ in die Forschung eingegangen ist.“

Nicht zuletzt sind auch die Unterkapitel mit den Themen „Blitz“, „letzte Dinge“  und „Jenseitsreisen“ lesenswert.

Bis hierhin meine kurzen „Sprünge“ in dieses viele Aspekte umfassenden Werks. Man mag die Grundüberzeugung des christlichen Autors für sich selbst als Leser ablehnen und insgesamt den Darlegungen und Überlegungen zu Gott, den Schriften der Kirchenväter und den Darstellungen zur Mystik und Kontemplation skeptisch gegenüberstehen.

Dennoch, wenn man die Grenzüberschreitung nicht gleich ‚abschmettert’ (s.o.), – und vielleicht gerade dann – ist das Buch für den Leser (zumindest war es das für mich) eine Quelle neuer Erkenntnisse in historischer und gesellschaftlicher Hinsicht und in das Denken im Glauben. Kurz und gut, ich möchte das Werk jedem empfehlen, der sich für diese umfassenden Themen interessiert. Auch die Zitate führen natürlich zu weiteren ‚Ah’-Erlebnissen!

Und die überaus kritische, teilweise ablehnende Haltung gegenüber modernen Errungenschaften und gesellschaftlichen Entwicklungen mag man dem Alter des Autors zugestehen. Sie erinnert mich ein wenig an das häufig zitierte weltfremde Gesellschaftsbild eines Wissenschaftlers, der die meiste Zeit seines Lebens dem Studium von wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Büchern gewidmet hat, auch wenn die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Weltfremde Nerds oder irre Maniacs: Das populäre Image des Wissenschaftlers entspricht nicht dem Selbstbild moderner Forscher. Doch es ist tief in der Kultur verwurzelt - und deshalb schwer zu ändern.“

Vielleicht liege ich ja ganz falsch mit meiner Überlegung. In einem Interview gewährt er einen Einblick in sein Privatleben:

„Ich heiratete erst nach der Pensionierung, vorher fehlte mir dazu die Zeit. Da ich auch das Zimmer meiner Frau mit meinen Büchern füllte, suchte sie sich eine eigene Wohnung, in der sie jetzt auch ihre psychotherapeutische Praxis hat. Ich begreife, dass sie ihre eigenen Räume braucht. Wir sehen uns regelmässig am Wochenende zum Essen. Wir sind beide Meister der Gemüsesuppe, die lässt sich auf Vorrat kochen und hält sich lange im Kühlschrank.“

Oder “spricht” die Entscheidung, lieber seine Wohnung mit seinen Büchern als mit seiner Frau (seit dem Jahr 2000 ist er verheiratet) zu teilen, doch „Bände“?

 
Quellen:

Haas, Alois Maria, Mystische Denkbilder“, Johannes Verlag Einsiedeln, Freiburg i.Br. 2014.
http://www.nzz.ch/bibliotheca-mystica-et-philosophica-1.592281#kommentare

Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung: Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Metzler, Stuttgart 1977.

 
 
 
 

 


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