Textatelier
BLOG vom: 21.09.2015

Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Ich sitze nach dem Mittagessen auf meinem Sessel, lausche den ruhigen, entspannenden Jazz-Klängen von Miles Davis auf seiner CD „Kind of Blue“ und lese ein wenig in einer vor einem halben Jahr erschienenen Ausgabe des „philosophie MAGAZINs“ in einem Aufsatz von Étienne Klein über „Augustinus und die Zeit“, in dem er sieben weitere Auffassungen von Zeit von Platon über Pascal, Kant, Bergson, Einstein und Heidegger bis zu Hartmut Rosa auflistet, und falle in eine Art von Vorschlummer zwischen Wachsein und Einschlafen.

Physiker, so lese ich, gingen davon aus, dass wir mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen nur Beobachter der Zeit seien, wie die Raumzeit, im Gefühl, in einem stehenden Zug zu sein und nur die Landschaft ziehe vorbei, und in diesem „Blockuniversum“ „ko-existierten“ sowohl die vergangenen, die gegenwärtigen oder die zukünftigen Ereignisse, so wie verschiedene Städte zur selben Zeit, gleichzeitig. Andere Physiker lehnten diese Konzeption ab und sähen nur Ereignisse der Gegenwart als real und als einzige Wirklichkeit an. Sie nennen das „Präsentismus“.

Für Augustinus gab es 3 Formen der Zeit, die alle mit der Gegenwart verknüpft seien: „die Gegenwart der Vergangenheit (Erinnerung), die Gegenwart der Gegenwart (die aktuelle Aufmerksamkeit) und die Gegenwart der Zukunft (die Erwartung)“.

Ich, in meinem halben Wachschlummer, weiss nicht, in welcher Zeit ich mich momentan befinde. Meine Aufmerksamkeit der Musik und dem Lesestoff gegenüber schwindet, und ich habe mich hier in meinem bequemen „Relax“-Sessel entspannt zurückgelehnt.

Mir fällt ein, dass ich den Deutsch-Lernenden vor Kurzem noch erläutert habe, dass sich in der deutschen Sprache die Zukunft auch im Präsens ausdrücken lässt, wenn ich ein Temporaladverb benutze, aber ebenso auch Vergangenes, wenn ich mich des historischen Präsens bediene: „Morgen fahre ich in die Berge.“ – „Kolumbus entdeckt 1492 Amerika und glaubt lange Zeit, er habe den Seeweg nach Indien gefunden.“

Diese Sätze, im Hier und Jetzt ausgesprochen, betreffen die Erwartung und die Erinnerung, so wie Augustinus es formuliert, aber wahrscheinlich nicht so gemeint hat.

Étienne Klein stellt fest: „Für die einen (Aristoteles, Leibniz, u.a.) muss die Zeit als einfache Ordnung von vorher und nachher gedacht werden, ohne dass es einen Bezug zum Subjekt oder zur Subjektivität gäbe. Das Einzige, was existiert, sind zeitliche Beziehungen zwischen Ereignissen. Für die anderen (Augustinus, Bergson, Husserls, u.a.) ist die Zeit keine Ordnung, sondern ein Verlauf, dessen Dynamik nur beschrieben und gedacht werden kann, wenn man die Anwesenheit eines Subjekts hinzudenkt: ‚In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten’, schreibt Augustinus, der Zeit als blosse Ausdehnung der Seele versteht.“

Das gehört sicher nicht in meinen Deutschunterricht, sinne ich vor mich hin. Die deutsche Sprache hat hier die Funktion, Kommunikationsmittel zu sein, in dem Gedanken ausgedrückt werden. Ob das Denken (über die Zeit) auch ohne Sprache möglich ist, vermag ich nicht zu entscheiden, im Moment jedenfalls überhaupt nicht, denn die ruhigen Saxophonklänge umschmeicheln mich. Auch das ist „Sprache“, wie der Schlagzeuger Jimmy Cobb ausführt: „Because there is something transcendent, poetic, perhaps even heavenly about the music on ‘Kind of Blue’.”

Und so schwebe ich in musikalisch-linguistisch-philosophisch-himmlischen Sphären und doch nicht in der realen Welt der „Gegenwart der Gegenwart“, irgendwo in der Zeit zwischen Traum und Wirklichkeit.

 
Quellen:
CD und „Booklet“: Miles Davis, Kind of Blue, 01-064935-10, Sony Music Entertainment Inc., Columbia, 1997.
Philosophie MAGAZIN, Philomagazin Verlag GmbH, Berlin, Heft 02-Februar/März 2015, S.78ff.
 

 


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