Textatelier
BLOG vom: 23.07.2016

Der Tourist - ein Mensch im Ausnahmezustand

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Wer oder was ist ein Tourist? Ein Tourist ist eine Person, die der Tätigkeit des Tourismus nachgeht. Tourismus besagt, dass der übliche Lebensmittelpunkt verlassen wird, und ein Aufenthalt in einer anderen Destination oder das Bereisen einer anderen Region erfolgt, und zwar nicht zum Zwecke der Ausübung einer Tätigkeit, die vergütet wird.

Die zeitliche Abgrenzung der touristischen Aktivität wird unterschieden zwischen Tagestouristen (ohne Übernachtung), Kurzreisen (2-4 Tage), Urlaubsreisen (länger als 4 Tage) und schliesslich Langzeitreisen (länger als 3 Monate).

Die nächste Information umfasst das Wozu. Ist die Reise ein Erholungsurlaub, eine Städtereise, ein Sportaufenthalt, eine Kur? Soll mit der Reise ein bestimmtes Ziel verbunden, etwa eine Gegend oder eine Stadt erkundet werden, dient sie einem kulturellen Zweck, etwa dem Besuch eines Konzertes, soll gewandert werden (zu Fuss, mit einem Fahrzeug), soll etwas erfahren und gelernt werden (historisch, kulturell, handwerklich).

Natürlich gibt es auch Mischformen. Wie wird die touristische Aktivität organisiert?
Ist es eine Individual- oder eine Pauschalreise? Werden touristische Ziele vorgegeben, gibt es eine Gesamt- oder Teilversorgung (Halbpension, "All-in") mit Lebensmitteln, gibt es eine Reiseleitung?

Es geht auch "alternativ". "Alternativtouristen" wollen keine "ausgetretenen Reisepfade" gehen, sondern solche Orte besuchen, die besonders abgelegen sind, von Tourismus möglichst noch unberührt, und die Bewohner noch nicht darin eine Einkommensquelle suchen. Je mehr Alternativtourismus es gibt, desto seltener werden diese Ziele. Anderen Touristen geht es um das Kennenlernen fremder Kulturen.

Vom Tourismus "leben" Staaten, grössere Landstriche, Inseln, Ortschaften. Sie sind "auf Touristen eingestellt", bieten an, was Touristen gerne haben. Manche Gegenden werden von Urlaubern bestimmter Nationalitäten, z.B. Deutsche oder Niederländer bevorzugt. Mallorca ist so eine Insel. Andere bedienen Touristen aus unterschiedlichen Nationalitäten.

Ein Beispiel von vielen ist Kroatien. In Istrien, einem Teil dieses Landes, sind in den Sommermonaten Touristen aus skandinavischen Ländern, Gross-Britannien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich, der Schweiz, Slowenien, Italien, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn, Russland den baltischen und anderen Ländern anwesend. Die gastronomischen Betriebe, Hotels und Reiseagenturen haben sich auf sie eingestellt. In Lokalen werden die Gäste in einigen der jeweiligen Muttersprachen begrüsst und nach ihren Wünschen gefragt, die Kellner sprechen alle ein paar Worte englisch, deutsch, niederländisch, italienisch, französisch oder in ihrer Muttersprache, serbisch.

Die Menschen unterschiedlicher Nationalitäten drängen sich in den Abendstunden durch die oft engen Gassen der Orte an der Adria, stehen an den Eisgeschäften an, gehen in die Restaurants, nachdem sie durch Bedienstete in den Muttersprachen dazu animiert werden und überraschenderweise haben diese oft die richtigen Worte auf den Lippen. Die Touristen zahlen in der Regel höhere Preise für gastronomische und andere Angebote als anderswo. Aber das wird akzeptiert. Das Geld sitzt etwas lockerer als zu Hause, schliesslich will man sich "etwas gönnen".

Tagsüber sind die Urlauber an den vielen, allen zugänglichen Stränden zu finden. Kroatien wird oft von Familien besucht, in der Nähe der Strände ist immer ein Spielplatz zu finden. Die Strände und die mit Bäumen bewachsenen Landstücke davor sind sauber, es gibt kleine Umkleidekabinen, öffentliche Toiletten und Restaurationsbetriebe. Parken ist oft kostenlos oder preiswert. Beobachtungen zeigen, dass die Reisenden, also die Paare, Familien oder die Gruppen "unter sich bleiben", selten gibt es Kontakte mit anderen Touristen. Ab und an kommt es zu kurzen Gesprächen mit dem Personal in den Restaurants. Es scheint, Touristen sind Individualisten. Intensive Kontakte zu Einheimischen entstehen selten.

Man ist für eine oder für 2 Wochen im Land, sonnt sich, geniesst das kulinarische Angebot, faulenzt, sieht sich ein paar Sehenswürdigkeiten, etwa die eine oder andere Kirche, an, nimmt an den Angeboten für Ausflüge, etwa mit dem Schiff zur nächsten Insel oder hier in Istrien nach Venedig oder Triest oder zu anderen Küstengegenden des Landes teil.

Vor allem geht es darum, 2 Wochen dem täglichen Alltag zu Hause und auf der Arbeitsstelle durch eine möglichst stressfreie Zeit zu entfliehen, Verpflichtungen zu vermeiden, ausser natürlich diejenigen, die die Familie mit sich bringt.

Jeder hofft auf gutes Wetter, das einen Strandurlaub mit viel Sonne zum Bräunen, mit ein wenig schwimmen, ausruhen und lesen ermöglicht.

Man informiert sich in Urlaubs- und Reiseführern, die genau auf die Bedürfnisse des "Normaltouristen" abgestimmt sind, natürlich auch mit den Unterkünften, gastronomischen Betrieben und Läden, die landesübliche Produkte anbieten. Manchen Reiseführer bieten ein wenig mehr, berichten über historische Ereignisse des Landes, haben einen kleinen Sprachführer eingebunden. Aber die wichtigsten Informationen beinhalten Notwendiges und besondere Ereignisse und Feste.

"Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen", wird redensartlich behauptet. Fragt man die wieder zu Hause angekommen, wie es war, erzählen sie vom Wetter, von der Unterkunft, wie sauber es war, von lauten anderen Touristen, also alles, was einem den Urlaub vermiesen kann, wie etwa Ungeziefer und Schmutz. Viel mehr wird kaum erzählt.

Es gibt natürlich Ausnahmen. Man hat eine besondere Sehenswürdigkeit besucht, die bemerkenswert war und im Gedächtnis Spuren hinterlassen hat, kulinarische Besonderheiten werden vielleicht nachgekocht und die Mitbringsel den Zuhausegebliebenen kredenzt.

Aber sonst: die Läden und Lebensmittelgeschäfte in den Urlaubsorten sind die bekannten Firmen, in denen man auch zu Hause einkauft, getankt werden Marken wie im Heimatland, die Mode, die angeboten wird, ist nicht anders als zu Hause. Spielzeug kommt oft auch China.

Einerseits also "genauso wie zu Hause", andererseits doch ein wenig anders, weil es touristisch ist und weil es Strand gibt und ein paar Besonderheiten des Landes zu entdecken sind.

Aber - kann man diese nicht auch in den Dokumentationsfilmen im Fernsehen konsumieren, oft besser und ausführlicher und in besonderer Art und Weise, als es im Urlaub möglich oder erfahrbar ist?

Das könnte der Grund dafür sein, dass immer mehr Deutsche ihre Urlaubszeit in Deutschland verbringen. Da kennt man sich aus, da weiss man, was man hat.

Wenn nur leider das Wetter oft nicht so ist, wie man es sich wünschen würde.
Aber - wie heisst es so schön - "es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepasste Kleidung!"

Man könnte mir vorwerfen, dass die obige Darstellung klischeehaft ist. Diejenigen Touristen, die einen sogenannten "Aktivurlaub" machen, passen in die Beschreibung nicht hinein. Sie erfahren diese Zeit ganz anders, sehen mehr, erleben mehr, haben vielleicht auch mehr Kontakte mit den Einheimischen.

Meines Erachtens machen sie aber nur einen kleinen Teil der Urlauber aus. Für sie bedeuten "die wichtigsten Wochen des Jahres" etwas anderes als zu faulenzen. Wahrscheinlich können sie auch mehr davon erzählen oder jedenfalls berichten sie über ganz andere Erlebnisse.

Anderes wird noch Jahrzehnte danach erzählt, "weisst du noch damals...". Der Strandurlaub ist dann oft schon längst vergessen. Jedenfalls das meiste davon, es sei denn, es wurde ein ärztlicher Eingriff erforderlich, wegen einer Magen-Darm-Infektion, wegen eines Knochenbruches oder wegen anderer Ereignisse. Oder man fiel einem Taschen- oder Autodiebstahl zum Opfer. Was dabei erlebt wird, bleibt im Gedächtnis, besonders, weil das Ereignis in einem fremden Land erfolgte, deren Abläufe nicht bekannt sind.

Aber die Erinnerung würde auch bleiben, wenn das Unglück im Urlaub im eigenen Land geschehen würde. So bemühen viele sich, wieder zu Hause durch ihre Bräune zu zeigen, dass sie "weg" waren. Da sich inzwischen viele Familien einen Urlaub auch in wärmeren Regionen leisten können, hebt eine andere Körperfarbe nicht mehr das Ansehen. Aber es ist immer ein Anlass, nachzufragen!

 


*
*    *

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst