Textatelier
BLOG vom: 14.06.2020

Demokratie als Baustelle auf mehreren Ebenen

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

Zu Quirin Webers grossangelegter Studie „Parlament – Ort der politischen Entscheidung?“ – Oder: was haben Parlamente eigentlich noch zu sagen?

Red. Als ehemaliges Mitglied des aargauischen Verfassungsrates (1973 – 1980) hat sich textatelier-Autor Pirmin Meier (Würenlingen AG und Aesch LU) immer wieder mit Fragen des Staatsrechts befasst. Auf den heutigen etwas theoretischen Artikel mit Bezügen zum deutschen Parlamentarismus wird in Bälde wieder ein mehr erzählerischer Beitrag erfolgen: zum Beispiel über die historische Umstrittenheit des Wirte-Berufes, ein Thema, das wie die Krise des Parlamentarismus in Zeiten von «Corona» in Erinnerung gerufen zu werden verdient.

 

Der in Muri AG lebende Jurist, Historiker, Philosoph und Theologe Quirin Weber (*1950), in früheren Jahren als politischer Redaktor im Aargau und beim Schweizerischen Handels- und Industrieverein (heute: economiesuisse) in der Geschäftsleitung tätig, hat für den renommierten Helbing Lichtenhahn Verlag als Band 85 der Basler Studien zur Rechtswissenschaft die 640-seitige Untersuchung „Parlament – Ort der politischen Entscheidung?“ verfasst. Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland kommen die „Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus“ zur Sprache, und zwar noch jenseits der peniblen Vorstellungen, die der Bundestag in der mutmasslichen Schluss-Phase der Ära Merkel mit dem bis heute nicht bewältigten Umgang von als «Altparteien» beschimpften Regierungsparteien und einer neuen, einerseits polemischen, andererseits ungelenken Opposition zu präsentieren pflegt. Es ist schon lange kein Vergnügen mehr, Bundestagsdebatten am Fernsehen zu verfolgen. Demgegenüber wird Quirin Webers Buch, wohl das bedeutendste neuere Werk eines Schweizers über deutsche Politik, im Zusammenhang mit den Begriffen Subsidiarität und Nachhaltigkeit im Gablerschen „Wirtschaftslexikon“
(Springer-Verlag) vermerkt. Das Werk findet sich in der Präsenzbibliothek des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialgeschichte in München. Auch im politologischen Seminar an der Universität Mainz dient es, genauso wie in Marburg, wo ich unlängst in der Universitätsbibliothek Recherchen machte, als Arbeitsunterlage.

In einschlägigen Bibliographien, nicht nur Wikipedia, wird Weber beim Stichwort „Parlamentarismus“ zusammen mit Autoren wie Hans Kelsen und Kurt Kluxen an privilegierter Stelle aufgeführt. Das Werk bietet dem politisch interessierten Leser einen reichen Fundus an Erkenntnissen. Zu den reflektierten Themen gehört Schuldenkrise, welche nach der Phase von «Corona» wohl wieder eine neue Dimension erhalten wird. Das Konzept schliesst an das „Parlamentsrecht“ des deutschen Staatsrechtslehrers Norbert Achterberg (1984) an. Dieser verband die in der Weimarer Republik aufgetretenen Steuerungsprobleme parlamentarischer Politik mit den heute sich stellenden Fragen der Legitimation parlamentarischer Arbeit.

In der derzeitigen Debatte steht im Vergleich zu Standardwerken früherer Epochen die Problemlösungskompetenz der parlamentarischen Arbeit im Vordergrund. Was Weber unter dem Stichwort „Arbeitsparlament“ erörtert, steht jenseits von idealistischen und traditionellen Vorstellungen von „Volksvertretung“. 200 Jahre nach den Brüdern Grimm („Die Poesie im Recht“) scheint auch das Märchen vom freien parlamentarischen Diskurs zu Ende erzählt. Ein solcher findet heute in den Parlamenten von Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Frankreich bei den massgeblichen Themen wohl kaum mehr statt, wenigstens nicht mit Einfluss auf massgebliche Entscheidungen. Trotzdem setzt sich der Staatstheoretiker Weber in der Tradition des Abbé Sieyès mit wünschbarer Gründlichkeit mit der Frage der parlamentarischen Repräsentation auseinander. Diese Grundlage einer noch möglichen legitimierten Demokratie spielt heute ein grössere Rolle in der politisch-rechtlichen Diskussion als die im Grunde kaum mehr praktizierbare „Volkssouveränität“ des Genfer Naturrechtlers Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1777). Davon haben sich aus Anlass seines 300. Geburtstages Staatsphilosophen (Georg Kohler, Francis Cheneval) stärker distanziert denn je. Die Berufung auf Volkssouveränität steht heute im Verdacht des Populismus. Im Hinblick auf das Funktionieren der europäischen Union stellt die Idee ein Hindernis dar.

Über die Repräsentation hinaus wird die Hauptarbeit des Parlaments, die zum kleinsten Teil im Plenum stattfindet, dargetan.  Zum Wandel der Staatsaufgaben und –funktionen gehört die Entwicklung rechtspolitischer Strategien, um die „Kontrollverantwortung“, etwa im Bereich der Haushaltskontrolle, wahrnehmen zu können. Parlamentsarbeit, wie sie in den Ausschüssen stattfindet, ist in diesem Sinn mehr als blosser Lobbyismus. Eine „deutsche“ Eigenschaft des Bundestages scheint es zu sein, dass dieser im europäischen Vergleich noch auf kompetente Weise in der Lage ist, die Aufgabe eines „Arbeitsparlaments“ zu erfüllen. Der neudeutsche Parlamentarismus bildet teilweise den Weg des Staates zum Gewährleistungsstaat ab. Jedoch wurde die Frage, wie viel Schulden im Rahmen des europäischen Rettungsschirms vom Parlament noch durchgewinkt werden können, von der Zweiten Kammer des Bundesverfassungsgerichts entschieden. Von einer Souveränität des Parlaments kann insofern kaum mehr die Rede sein.

Dass der vom Verfassungsgericht tolerierte faktische Ausschluss aktiver Unternehmer aus dem Bundestag hochumstritten bleibt, ist ein Befund, den es auch in der Diskussion um das Schweizer Milizparlament zu beachten gilt. Ein vorbildlicher Milizvordenker war der Aargauer Julius Binder. Wie weit waren dynamische Unternehmer wie Otto Ineichen (+), Christoph Blocher und Peter Spuhler Auslaufmodelle?

Im historischen Teil ist bei Quirin Weber nebst dem deutschen vom britischen, französischen, amerikanischen und schweizerischen Parlamentarismus die Rede. Zu substanzieller Zitierung gelangt der Schweizer Verfassungsjurist Kurt Eichenberger (1922 – 2005). Ein in Theorie und Praxis fast unvergleichlicher Staatsdenker, dessen Format als Redaktor der aargauischen Kantonsverfassung sich den Mitgliedern des Verfassungsrates nachhaltig einprägte. Zur Mehrebenen-Demokratie, welche in Webers Buch zum Leuchten gebracht wird, gehört aus schweizerischer Sicht die Kantonalisierung von Entscheidungen. Wohl nur dank starker Kantone kann sich die Schweiz eine vergleichsweise schwache Regierung leisten.

Zur Sprache kommen bei Weber Erfordernisse an ein europäisches Parlament. Der Verfasser zieht es jedoch vor, das Tabuthema „europäische Demokratie-Defizit“ fast nur im Kleingedruckten zu erörtern. Es handelt sich dabei insofern um ein Schlagwort, als die Europäische Union der Gegenwart, wie Weber betont, nicht als Staat bezeichnet werden darf. Allfällige Demokratiedefizite fallen demnach als Defizite der Einzelstaaten auf diese selbst zurück.  

Dass der moderne Parlamentarismus auf einem System verschiedener Ebenen stattfindet, wovon die supranationale immer mehr massgeblich wird und bleibt, erscheint am Beispiel der Bundesrepublik als grundlegender Befund. Hier wird die Relativierung der Macht durch Interdependenz sozusagen lehrbuchmässig dargetan.
Die demokratische Repräsentation sei auf der „geschichtlich präzedenzlosen“ Ebene der Europäischen Union „anders“ als auf staatlicher Ebene zu konzipieren (S. 12). Dabei wird auf den Vertrag von Lissabon (2007/2009) Bezug genommen, welcher seinerseits die Hürde des deutschen Bundesverfassungsgerichts nehmen musste. Man bekommt den Eindruck, dass diese Institution heute ein archimedischer Punkt ist, der bestimmt, ob und wie weit Brüssel-Europa noch funktioniert. Es wäre indes abwegig, die Schweiz von 1848 mit der Entwicklungslinie der Europäischen Union der Gegenwart zu verwechseln.  Das Problem des Demokratie-Defizits bleibt auf dem Tisch, aber anders, als meist dargestellt. Der „offene Staat“ muss im Sinn der Globalisierung europäisch und international kooperieren, es soll möglichst keinen Protektionismus und freien Welthandel geben. Zugleich muss er als Leistungs- und Dienstleistungsstaat funktionieren.

Es ist ein Verdienst dieser Arbeit, dass nicht nur gesagt wird, wie das Parlament funktionieren kann. Grundsätzlich wird auch klar gemacht, was es zu leisten hat, nämlich die Setzung politischer Grundsatzentscheidungen wie auch bei zunehmender Verknappung finanzieller Mittel die Setzung der Prioritäten bei den staatlichen Aufgaben und Ausgaben. Dabei herrscht aber doch ein klares Bewusstsein der Relativierung der Bedeutung nationaler Parlamente, deren Kompetenzen wohl auch in Zukunft durch Gerichte zusätzlich eingeschränkt werden. Nicht vergessen wird indes auch die „wachsende Diskrepanz zwischen Wählerwillen und parlamentarischer Entscheidung“, welche durch die Komplexität verschiedenster Legitimationsebenen noch gefördert wird. Der Wählerwille scheint je länger desto weniger kaum mehr das Wichtigste zu sein. Auch wird die parlamentarische Kontrolle dessen, was man als Bürger gern kontrolliert haben möchte, immer schwieriger. Dazu vermerkt der Autor: „Wenn die parlamentarische Kontrolle schwierig wird, hat das Parlament dafür zu sorgen, dass die staatlichen Entscheidungsprozesse gut organisiert sind“ (S. 498ff. und S. 513).

Das hochkomplexe Buch bringt eine historisch, juristische und politologische Analyse eines Systems, in dem trotz oft gehörter Zweifel der Glaube an ein neues Europa als Baustelle der Demokratie bewusst nicht ad acta gelegt wird. Die Hoffnung stirbt zuletzt.  Die zunehmenden Ansprüche an den „Dienstleistungsstaat“, desgleichen die Ansprüche an das Parlament, es national und international fast allen recht machen zu müssen und ununterbrochen auf Interdependenz zu pochen, vermitteln dem einzelnen Bürger aber kaum mehr den Eindruck, dass er als ein Teil des Ganzen „der Souverän“ sei. „Die Verwirklichungsmöglichkeiten des Demokratieprinzips erweisen sich als schwierig“, vermerkt der Verfasser lakonisch. Trotzdem darf das unablässige kritische Bemühen um die Legitimierung der parlamentarischen Tätigkeit nicht aufgegeben werden. Es ist den „Schweiss der Edlen“ wert. Darum scheint es mir keine Kleinigkeit, dass der Schweizerische Studentenverein (ST.V.) anhand des Miliz-Prinzips über die Möglichkeiten und Grenzen des Parlamentarismus von heute diskutiert. Das in fünfjähriger Arbeit erstellte Basiswerk über die Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus erweist sich angesichts angesichts der zur Zeit von «Corona» zunehmenden Beschränkung des Regierens auf die Exekutive und im Hinblick auf eine sich anbahnende erneute Schuldenkrise, verbunden mit Rezession, als aktueller denn je.

Quirin Weber: Parlament – Ort der politischen Entscheidung? Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus – dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Basler Studien zur Rechtswissenschaft Bd. 85, Verlag Helbing und Lichtenhahn, Basel 2012

 


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