Textatelier
BLOG vom: 01.01.2022

Gedanken zum jahreszeitlichen „Computus“

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 

Fasnacht im Sommer? Feste feiern im Zeitrhythmus unserer Kultur – Eine Neujahrsbetrachtung mit regionalem und allgemeinkulturellem Hintergrund.

„Di Zwölfte“, war laut dem bei Prof. Stefan Sonderegger (1927 – 2017) geschulten Mundartforscher Hans-Peter Schifferle ein alter Name für die gnadenvolle Weihnachtszeit. Ab St. Thomas (21. Dez.) währen die 12 heiligen Tage der Wintersonnenwende bis zu Dreikönigen, dem Weihnachtsfest der Orthodoxen. Wie die Zeit um Ostern sind diese Tage für Betreibungen gesperrt. Die Bibel spricht von „Zeit zum Gebären, Zeit zum Sterben, Zeit zum Pflanzen, Zeit zum Ernten. Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit, es gibt eine Zeit für den Tanz“. So der Prediger Salomo. Sogar der Unfug, „die Zeit zum Steinewerfen“, ist nach Buch Kohelet biblisch geregelt; Nachtbuben liessen sich dies für den 30. April und den 1. Mai (Walpurgisnacht) nicht zweimal sagen. Eine Lizenz für Streiche! Mein Urgrossvater, Metzger Beda Meier und seine Nachfolger kannten sogar noch eine aus Buch Kohelet 3,2 angesagte „Zeit zum Schlachten“. Im alten Gemeindeschlachthaus Würenlingen wurde derselben je am Montag nachgelebt. Jahrzehntelang fand im Saal des Gasthofes Bären die „Fasnachtseröffnung“ statt. Diese war mit „Martini“ nicht zu verwechseln. Der 11. November, das traditionelle Ende des Bauernjahres, wurde zwar mit Schmausen von Fleisch und Gebäck begangen, Musik und Tanz. Zur Zeit meiner Urgrosseltern ein beliebter Hochzeitstermin. Mit Fasnacht aber hat der 11.11. nichts zu tun. So wenig wie Heiterkeit und Ausgelassenheit bei Winzerfesten, in Döttingen traditionell zu Beginn des Weinmonats Oktober; 2021 leider ausgefallen.

Es gab und gibt auch kalendarisch bewegliche Feste. Der heilige Beda vollendete im 8. Jahrhundert den „Computus“: die Berechnung der Fasnachts- und Osterzeit, eine Pionierleistung christlicher Astronomie. Der Vollmondzyklus der Osterzeit, zwischen Aschermittwoch und Karfreitag, entsprach ursprünglich dem julianischen Kalender, 1582 von Papst Gregor XIII. korrigiert. Darum starb die heilige Theresia in der Nacht vom 4. auf den 15. Oktober. Und die katholische Fasnacht findet seither nun mal elf Tage vor derjenigen der Reformierten statt. Darum die unterschiedlichen Fasnachtstermine. Es blieb aber dabei: die Fasnacht, das fröhlichste Fest des Spätwinters, verweist auf die vom „Computus“, nicht vom Computer, berechnete Osterzeit. Derselben ging, auch im Sinne sparsamer Verwendung der Wintervorräte, die Fastenzeit voraus; im Zurzibiet war die Mehlsuppe ein traditionelles Menü für Aschermittwoch. Als Leittermine der Fasnacht gelten die Nacht vom Fasnachtssonntag auf den Montag, gefolgt vom Fasnachts- oder Güdis-Dienstag. Der in der katholischen Fasnacht mit Lärm begangene Schmutzige Donnerstag war mit Ausnahme der Sonntage sowie Dienstag vor Aschermittwoch der letzte Fleischtag vor Ostern! Dies hat man ohne schlechtes Gewissen gefeiert.  

Kultur ist das Verhältnis des Menschen zur Zeit. Lebenszeit, zum Beispiel mit Geburt, Taufe, Einschulung, die Zeit der Reife und Mündigkeitserklärung, Firmung oder Konfirmation; der Palmsonntag als spezielles Bubenfest mit weiblicher Entsprechung der Blumen- und Kräutersegnung Mitte August: in Würenlingen früher „Maitli-Palmsunntig“ geheissen. Bräuche einer christlich geprägten Kultur sind vielfach abgegangen. Die Corona-Zeit hat das Brauchtum im Umfeld von Sterben und Tod mit gemeinschaftlichem Abschiednehmen auf dem Friedhof und in der Kirche - mit Ritualen von Abdankung und Beerdigung - stärker als je auf den „engsten Kreis der Familie und Angehörigen“ reduziert, als dies in den letzten Jahren ohnehin der Fall war.

Der Vorschlag aus den Reihen einer Aargauer Fasnachtsgesellschaft, nämlich derjenigen meiner Heimatgemeinde Würenlingen, den bedeutendsten Spätwinterbrauch unserer dörflichen Kultur auf die Zeit der Sommersonnenwende im Juni zu verlegen – man stelle sich den Stadtbasler „Moorgestraich“ um diese Zeit vor! – zeugt meines Erachtens von wenig kultureller Sensibilität. Zu schweigen von Verständnis für die „heilige Fasnacht“, bei der man bei der als Weltkulturerbe anerkannten Basler Fasnacht viel von Humor, aber im Respekt vor dem Brauchtum keinen Spass versteht. Für Würenlingen wünsche ich mir, dass die Gemeinde 2028 ihre 1200-Jahrfeier nicht verschieben muss wie 1978, als man die Vorbereitung auf das Jubiläum schlicht verschlafen hatte und dasselbe mit zwei Jahren Verspätung beging. Für Samichlaus, Fasnacht und die ebenfalls nicht beliebig verschiebbare, als Gemeinschaftserlebnis gefährdete Bundesfeier möge gelten: Wir brauchen, um einander nahe zu kommen, nicht weniger, sondern mehr Heimat. Um sie zu behalten, wiederzuerkennen, braucht es Traditionen, Dorfkultur. Die Fasnacht ist weder Klamauk noch eine beliebige Ganzjahres-Angelegenheit. In schweren Zeiten, bei Krieg, Pest und Cholera, musste sie schon wiederholt ausfallen. Beim Attentat auf die Swissair 1970 hatten die Würenlinger Fasnächtler gerade noch Glück: das schlimmste Ereignis in der Geschichte unseres Dorfes fand zehn Tage nach Aschermittwoch statt. Meine Anregung: Dorfkultur braucht Besinnung!

 

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