Textatelier
BLOG vom: 20.08.2022

Kritik – Eher eine Kunst als eine Wissenschaft

Zum Vermächtnis des Literaten und Publizisten Anton Krättli (1922–2010)

Von Pirmin Meier

Anton Krättli, dessen 100. Geburtstag am 18. August fällig gewesen wäre, war der wohl profilierteste Redaktor des Feuilletons des Aargauer Tagblatts sowie der Schweizer Monatshefte, die er zu ihren besten Zeiten während 28 Jahren redigierte. Geboren am 18. August 1922 in Laufenburg, im gleichen Jahr wie die von ihm mit dem Aargauer Literaturpreis gewürdigte Erika Burkart, verstarb er 2010 in Aarau, seiner langjährigen Wirkungsstätte. Krättli gehört sowohl zu den Gründerpersönchlichkeiten der Kulturstiftung Pro Argovia als auch, mit Jean-Rodolphe von Salis, zu denjenigen des Stapferhauses Lenzburg wie überdies des von 1976 bis 2006 vergebenen Aargauer Literaturpeises, zu dessen Trägern (2002) zu zählen auch der Verfasser dieses Beitrages die Ehre hat.   Ein Porträt von Anton Krättli gehört insoweit in die Serie der auf dieser Seite seit einigen Jahren, begonnen zu Lebzeiten von Walter Hess, hier präsentierten Darstellungen von profilierten Persönlichkeiten mit Schwerpunkt Schweiz.

Der Aargauer Krättli, ursprünglich Bündner Kantonsbürger, setzte wie einst Heinrich Zschokke (1771 – 1848), der frühere Lehrer im bündnerischen Reichenau, Massstäbe für eine mitbürgerliche Literaturkritik und gehört zusammen mit dem NZZ-Feuilletonchef Werner Weber (1919–2005), «Tat»-Chefredaktor Erwin Jaeckle (1912–1997) und Kritikerlegende Elisabeth Brock-Sulzer (1903–1981) zu den Grossen des hiesigen Feuilletons. Wie kaum ein anderer repräsentierte Krättli, der mit bedeutenden Autoren in direktem Dialog stand, den hochgebildeten, vorausschauenden liberalen Bildungsbürger mit humanistischer Fundierung. Anlass genug, dass sowohl die Aargauer Zeitung wie auch das Nachfolgeorgan der Monatshefte, der Schweizer Monat, dieser Tage das bedeutende Lebenswerkt des Aargauer Literaturpreisträgers von 1994 würdigen.

Zum Spannungsfeld des jungen Literatur- und Kulturkritikers gehörte die für den neueren Liberalismus prägende Differenz zwischen den 48ern und 68ern. «48er» zu sein, bedeutete für Krättli, der in der Nachkriegszeit studierte, in der 100-Jahrfeier des weltweit einzigartigen Bundesstaates 1948 eine kulturelle Aufgabe für eine neue Zeit zu erkennen.

Damit war er stärker vorwärts orientiert als seine Professoren, bei denen es sich häufig um hohe Offiziere der Schweizer Armee handelte. Kritische Neugier bedeutete für Krättli vor allem, sich vom Theater der Zeit herausfordern zu lassen. Der Suizid des Bühnenschweizers Cäsar von Arx (1895–1949) wühlte ihn deshalb ähnlich auf wie 40 Jahre später derjenige des Meisterautors Hermann Burger (1942–1989), den er via Schweizer Monatshefte früh fördern sollte.

In seiner 1978 erschienenen Studie «Das Lorgnon oder der Literat im Lokalblatt», die von seinem Sohn Rolf kunstvoll gestaltet worden ist, verwahrte sich Krättli im Rückblick auf die Studienzeit und seine Anfänge als Publizist, die Schweizer Nachkriegsjugend als unkritisch hinzustellen. Was den jungen Krättli im Zusammenhang mit der Gründung eines Jugendparlamentes in Aarau noch von den späteren 68ern, auch der «Klimajugend» der Gegenwart unterschied, war, wie er in einer autobiographischen Studie (Lenzburg 1978) eingestand, dass die jungen Leute von damals sich noch ernsthaft von der Frage nach ihrer Sachkompetenz hätten zu Selbstzweifeln verleiten lassen. Dies bei einer schon damals zur Debatte stehenden Jugendparlaments in Aarau.

 Für den Sohn eines Postbeamten war es keinesfalls selbstverständlich gewesen, Jahre in ein Studium der Geisteswissenschaften zu investieren. Und für die Öffentlichkeit zu schreiben war auch kein Hobby, sondern Arbeit, die von jungen, damals wegen Konkubinatsverbot früh verheirateten Erwachsenen ohnehin gefordert worden sei.

 

Jahrhundertzeuge literarischer Entwicklungen
Neugierig zu bleiben bedeutete für den jungen Krättli, bei der skandalträchtigen Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts «Es steht geschrieben» (Frühjahr 1947) ebenso wie der später in Baden lebende erste Dramaturg Dürrenmatts, Peter Lotar (1910 – 1986) zugegen zu sein wie später beim Triumph von «Die Physiker» (1961) sowie bei den Zürcher Misserfolgen «Der Mitmacher» und «Die Frist». «Blödsinn versinkt in Mumpitz», schimpfte Marcel Reich-Ranicki später einmal über ein weiteres Dürrenmattsches Spätwerk. Krättli hingegen verstand seinen Beruf so, an Klassikern wie Lessing und Schlegel geschult zu sein, als Kritiker gleichwohl unbedingt der Zukunft zugewandt zu bleiben.

So war es denn auch schlichte Neugier, die Krättli davon abhielt, sich an der Total-Ablehnung des epochalen Neu-Töners Thomas Bernhard zu beteiligen, die dem österreichischen Autor in den 1960er Jahren entgegenschlug. Aus dieser Haltung heraus machte Krättli in den Siebzigerjahren das Stapferhaus Lenzburg, geführt von Martin Meyer (1930-2008), zum Brennpunkt eines kurzen literarischen Frühlings der neueren Deutschschweizer Literatur: Erika Burkart, Ernst Eggimann, Gerold Späth, Heinrich Wiesner, Gertrud Wilker, Klaus Merz, Urs Faes, Jürg Amann und der an Brillanz und Präzision alle überstrahlende Hermann Burger trafen sich hier. Bei diesen Gelegenheiten erhielt eine neue Generation von Kritikerinnen eine Plattform, so Gerda Zeltner, Elsbeth Pulver, Elsbeth Dietrich und noch andere, nicht zu vergessen Krättlis Weggefährten Luc Bondy und Albert Hauser.

 

Aargauer in der Tradition Heinrich Zschokkes
Die Mittellage des Kantons Aargau, bis heute schnell als «Provinz» abgetan, ermöglichte dem bedeutendsten Kulturminister in der Geschichte der Schweiz, Philipp Albert Stapfer (1766-1840), die einzige nachhaltige Errungenschaft der kurzlebigen Helvetischen Republik: den kulturellen und bildungspolitischen Aufbruch. Dazu gehörte auch die Erfindung der Institution Kantonsschule 1802 und später der von Zschokke und dem Philosophen I.P.V. Troxler geförderte „Lehrverein“, die wegweisende Volkshochschule für künftige Verfassungsväter. Zu erwähnen ist hier zudem der 1807 gegründete, damals epochale Verlag Sauerländer, zu dessen Geschichte Anton Krättli als wohl bester Schweizer Kenner von Clemens Brentano zwei Publikationen beigetragen hat, die zu seinen bestgeschriebenen Büchern zählen: zum einen den exquisit kommentierten Briefwechsel Heinrich Remigius Sauerländer – Brentano, der 1962 bei Artemis erschien, zum anderen «Wortverliebt und unbesonnen – Annäherungen an Clemens Brentano», 1996 von Pendo verlegt. Dass Sauerländer heute zur Schweizer Kulturgeschichte gezählt wird, ist mit eine Errungenschaft des Germanisten Anton Krättli.
Brentano war auch einer der untersuchten Hauptautoren in Krättlis Dissertationsschrift «Die Farben in der Lyrik der Goethezeit» von 1949. Kaum je wurde besser illustriert, was Krättlis akademischer Lehrer, der Germanist Emil Staiger, unter «lyrischem Stil» verständlich zu machen vermochte. Allerdings war es nicht Krättlis Art, bei ungewohnten Texten mit der berüchtigten Frage seines Doktorvaters Emil Staiger zu kommen: «In welchen Kreisen verkehren Sie?» Als einer der Promotoren des 1969 gesamtschweizerisch epochalen Aargauer Kulturgesetzes (1% des Steueraufkommens für Kulturförderung) und wegweisender Kulturpublizist stand Krättli in der Tradition des Universal-Publizisten Heinrich Zschokke (1771 – 1848). Dessen Weltoffenheit machte die oberhalb von Aarau gelegene Villa Blumenhalde, gelb getüncht wie die Häuser Goethes und Schillers, zu einem kleinen Weimar in der Schweiz. Diese Blumenhalde wurde indes nicht mit Subventionen, sondern mit Tantiemen finanziert!

 

Repräsentant der Generation des «Weltchronisten»

Zu den denkwürdigsten Grabstätten im Aargau zählt der Friedhof von Brunegg. Hier ruhen Hermann Burger, Manuel Gasser («DU») und Jean-Rodolphe von Salis nahe bei einander – ein Anlass, über verschiedene Arten von Bildungsbürgern nachzudenken. Sowohl Gasser wie auch Burger galten ihrer jeweiligen Generation als Exzentriker «Weltchronist» von Salis betätigte sich bei seinen trefflichen Bundesfeierreden in Brunegg im besten Sinne mitbürgerlich. Letztlich blieb er aber ein vom Schloss heruntergestiegener Aristokrat, dank Horizont, geistigen Interessen und kritischem Format zum Grossbürger gewandelt. «Sagte ich zu Dürrenmatt», lautet ein charakteristischer Satz aus seinen Memoiren.
Anton Krättli hingegen ist aus eigener Kraft zum exemplarischen Bildungsbürger aufgestiegen. Beruflich pendelte er zwischen Aarau und Zürich. In seinem eigenen «Tusculum» in Aesch am Hallwilersee– umgeben von Ahorn, Birke, Blutbuche, Weide, Zitterpappel und Haselnuss – zeigten mir Rolf Krättli und dessen Gattin Cornelia, was vom Arbeitszimmer des Gelehrten übriggeblieben ist. Im oberen Stockwerk des Hauses, mit Blick auf den See, entstanden subtile eigene Malereien, Artikel, Essays, Editionen und Reden. So die je markanten Ansprachen zum Aargauer, Basler und auch Zürcher Literaturpreis, die 1986 im Falle von Jürg Federspiel von Niklaus Meienberg spektakulär «ergänzt» wurde.  In seinem dreibändigen Vermächtniswerk «Zeit-Schrift» (Sauerländer, Aarau 1982) bekennt sich Krättli zur Kritik weniger als Wissenschaft denn als Kunst. So wie es Peter von Matt, ebenfalls Schüler von Emil Staiger, heute noch praktiziert. Als «Adam Nautilus Rauch» ist Krättli, selber Literaturpreisträger, dank Hermann Burgers Roman «Brenner» in die deutsche Literatur eingegangen. 

Im Rahmen des 23. Seetaler Poesiesommers wird am Samstag, den 10. September 2022, 11 Uhr, im Alten Pfarrhaus von Fahrwangen AG, Bahnhofstrasse 26, eine Matinée zu Ehren von Anton Krättli stattfinden, mit dem Verfasser dieses Beitrags als Referenten, sowie nebst Familienmitgliedern Krättlis, René Böll, Sohn des Nobelpreisträgers, als Ehrengästen. Veranstalter ist der Seetaler Poesiesommer.

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