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BLOG vom: 16.08.2024

Titos vergessene Folterkammer

Die ehemalige Gefangeneninsel GOLI OTOK [1948-1988] im Kvarner Archipel (Nördliche Adria)/Kroatien

Autor: Dr. H. L. Wessling, Osteuropahistoriker und Slawist, Deutschland

Wer auf der vielbesuchten kroatischen Adriainsel Rab Urlaub macht und Lust auf einen kleinen Bootsausflug hat, landet nach 15 Minuten auf Goli Otok (was wörtlich „kahle Insel“ bedeutet) und wird –gewollt oder meistens ungewollt-  mit einem weniger pittoresken Thema der Nachkriegsgeschichte Jugoslawiens konfrontiert.

Am Anleger erwartet mich ein kleiner Souvenirladen. Daneben ein einfaches, aber irgendwie sympathisches Restaurant mit Meerblick. Igor, der freundliche Inhaber, betont, er besitze hier das einzige noch wirklich intakte Gebäude der Insel. Ansonsten dominiert, angesichts des auf den kroatischen Inseln überall sichtbaren Aufschwungs, ungewohnter Verfall.

Ich mache mich auf einen Fußweg bergauf, immerhin auf einer befestigten Straße. Oben auf dem Hügel angekommen, sieht man unterhalb eine Reihe verfallener Gebäude, fünf grössere noch mit Dach, von den anderen nur noch die Grundmauern. Die zuständige Behörde der Gespanschaft Primorje-Gorski Kotar (kroatische Verwaltungseinheit, einem Kanton vergleichbar) mit Sitz in Rijeka hatte mir das Betreten der Anlage ohne Einschränkungen und ohne normalerweise notwendige Führung erlaubt.

 


 

Inmitten der verfallenen Gebäude türmen sich Berge von Schutt auf. Lediglich zwei davon befinden sich noch in einem einigermaßen erträglichen Zustand. Interessanterweise ist das am besten erhaltene Gebäude die ehemalige Kegelbahn (kuglana), die den Gefangenenwärtern, und leider wohl auch Folterknechten, zur Entspannung nach getaner Arbeit diente. Ein paar „Devotionalien“ aus den Zeiten, als hier bis zu 2000 Gefangene unter extremen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten, sind immerhin noch ausgestellt: Essensnäpfe und Trinkbecher der Insassen, unpolitische Literatur, eine alte jugoslawische Staatsflagge. Ein Film, auf dem Zeitzeugen zu Worte gekommen sein sollten, konnte wegen eines defekten Abspielgerätes nicht gezeigt werden.

Nach der jugoslawischen Staatsgründung 1948 und dem Bruch Titos mit Stalin im sogenannten KOMINFORM-Konflikt wurde auf Goli ein Straflager für politische Gefangene eingerichtet. Man muss berücksichtigen, dass das Staatsgebiet des späteren Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg ohne sowjetische Hilfe im Partisanenkrieg von der deutschen Wehrmacht befreit wurde und Tito folglich keine Rücksicht auf Stalin zu nehmen hatte und auch keine Verpflichtung fühlte, sich mit seinem Bund der Kommunisten Jugoslawiens (Zavez Kommunista Jugoslavije) dem von der Sowjetunion dominierten Ostblock anzuschließen.

Wer nun glaubt, die ersten Insassen des Straflagers seien vorwiegend kroatische Separatisten (Ustaše) oder Gefolgsleute des kroatischen Hitler-Vasallen Ante Pavelić gewesen, muss sich eines Besseren belehren lassen. In der Zeit bis 1956 waren auf Goli überwiegend Partisanen und Kommunisten interniert, die sich den sowjetischen „Brüdern“ verpflichtet fühlten oder zumindest als „Stalinisten“ verdächtigt wurden. Auch im frühen Jugoslawien Titos hat die Revolution zuerst einmal ihre eigenen Kinder gefressen. In dieser Zeit des Terrors kamen fast 400 Gefangene zu Tode, durch Folter, Erschöpfung und Krankheit.

 


Appell im Straflager um das Staatssymbol, den Roten  Stern (1955)
(Copyright: balkan-history.org)
 

Ab Ende der 1950er Jahre verbesserte sich die Situation im Gefangenenlager. Politische Gefangene wurden zunehmend durch Schwerkriminelle ersetzt. Immerhin hat Goli Otok bis fast zum Beginn der jugoslawischen Sezessionskriege bestanden und wurde erst 1988 aufgelöst. Nicht nur für den Historiker ist es bedauerlich, dass damals sämtliche Dokumente und Akten vernichtet wurden, was eine vollständige Aufarbeitung der Ereignisse praktisch unmöglich macht.

Die kroatische Regierung hat bisher wenig Interesse an der Einrichtung einer Gedenkstätte auf der Insel oder zumindest einer Beseitigung von Schutt und Trümmern dort gezeigt. Das mag verschiedene Gründe haben. In der Wahrnehmung eines Grossteils der konservativen kroatischen politischen Klasse wird Jugoslawien als „serbische Diktatur“ betrachtet.  Die Geschichte Tito-Jugoslawiens wird in kroatischen Schulen oft nur sporadisch behandelt. Darüber hinaus waren viele Schergen im Straflager Goli Kroaten aus der näheren Umgebung, viele aus dem gegenüberliegenden Lopar auf der Insel Rab. Es gibt allerdings eine kleine NGO, die für die Aufstellung von Hinweistafeln auf der Insel gesorgt hat.

 


 

Vielleicht wird der Traum von Restaurantbesitzer Igor eines Tages doch noch wahr und Goli wird zu einer historischen Gedenkstätte umgebaut, mit vielen Besuchern. Dem Parlament in Zagreb liegt seit kurzem immerhin eine entsprechende Petition vor.

 

Ausführliche Informationen unter:
https://balkan-history.org/de/das-gefangenen-lager-goli-otok/

 

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