Textatelier
BLOG vom: 30.04.2005

Im Land, wo man Kindergärtler mit Handschellen erzieht

Autor: Heinz Scholz, Schopfheim D

Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie haben eine temperamentvolle fünfjährige Tochter, die im Kindergarten ihre Langeweile damit überbrückt, dass sie Notizzettel vom Schwarzen Brett entfernt, auf den Tischen herumturnt und der Kindergärtnerin einen Klaps verpasst. Die überforderte Erzieherin kommt mit der Göre nicht klar. Sie ruft in ihrer Verzweiflung die Polizei. Diese rückt an, 4 Mann hoch. Dann drücken die Polizisten die Arme des schreienden Mädchens auf den Rücken und legen ihr Handschellen an. Nach vollbrachter Tat rauschen sie mit der „Schwerverbrecherin“ zum Polizeirevier ab.

Der geschilderte Fall ist keinesfalls der Phantasie eines Bloggers entsprungen. Nein, der Vorfall hat sich wirklich in St. Petersburg (USA) ereignet. Im hochgelobten Land der grenzenlosen Freiheit schlug die Polizeigewalt unbarmherzig zu. Wie „Spiegel-online“ am 23. April 2005 berichtete, hatte es schon in der Vergangenheit ähnliche Fälle gegeben. So kam ein 9-Jähriger aus Ocala (Florida) kürzlich ins Gefängnis. Grund: Er hatte ein Bild gemalt, auf dem er und ein Klassenkamerad einen Mitschüler mit dem Schwert bedrohen. Die Idee stammte wahrscheinlich von einem Hollywood-Plakat.

Eine Neunjährige, die das Kaninchen des Nachbarn und 10 Dollar gestohlen hatte, wurde ebenfalls in Handschellen abgeführt.

1999 sorgte der Fall Raoul weltweit für Aufsehen. Eine Nachbarin hatte den 11-jährigen Jungen wegen sexueller Nötigung angezeigt. In Wirklichkeit hatte Raoul nur seiner kleinen Schwester beim Pinkeln geholfen. Er wurde verhaftet und eingesperrt. Die Familie war so wütend, dass sie die USA mit ihren anderen 3 Kindern verliess und in die Schweiz übersiedelte. Erst ein halbes Jahr später durfte Raoul nachkommen.

Stellen Sie sich einen weiteren Fall vor: Ihr Kind ist in der 1. Klasse, und hat bereits eine Freundin. Ab und zu küssen sich die beiden. Dann kommt das Donnerwetter in Form einer Anzeige wegen sexueller Belästigung. Ihr Kleiner fliegt von der Schule. Dies war auch brutale Wirklichkeit – geschehen 1996 im US-Staat North Carolina. 

Ein ähnlicher Fall ereignete sich in New York. Dort wurde im Kindergarten ein 5-Jähriger wegen sexueller Belästigung (sexual harassment) angezeigt. Grund: Küssen eines Mädchens auf den Mund.

Zum Glück wohnt mein 5-jähriger Enkel Manuele nicht in den USA, sondern in Deutschland. Denn sonst wäre er schon längst verhaftet worden. Er hat nämlich eine Kindergartenfreundin. Und sie feierten schon einige Male in spielerischer Art „Hochzeit“, und dabei wurden sogar Küsse ausgetauscht!

Als ich eine Kindergärtnerin meines Enkels auf den eingangs erwähnten US-Fall aufmerksam machte, schüttelte sie nur den Kopf und sagte, es sei eine Bankrotterklärung der Kindergärtnerin und des Staates. Auf meine Frage, was sie tue, wenn ein Kind ausfallend wird, antwortete sie: „Wir nehmen das rebellierende Kind aus der Gruppe heraus, sprechen mit ihm und nehmen es auch in den Arm.“ So war es auch mit einem verhaltensgestörten 6-jährigen Jungen. Als sie ihn umarmte, blickte er ungläubig drein. Er konnte es nicht fassen, dass ihm eine solche Zuneigung zuteil wurde. Daraufhin beruhigte er sich und konnte bald darauf wieder in der Gruppe mitspielen. Wahrscheinlich bekam der Bursche von seiner allein erziehenden Mutter, die noch ein weiteres Kind hat, keinerlei Zärtlichkeiten.

Eine Kindergärtnerin aus Schopfheim D, die ich sehr gut kenne, redet zunächst mit einem aufmüpfigen Kind. Nützt dies nicht, dann erfolgt der Ausschluss von Lieblingsspielen. „Wichtig ist, dass man konsequent ist“, so die Erzieherin. Sie betont, dass die Kindergartenkinder noch ganz gut auf einen positiven Weg gebracht werden können.

Anders sieht es bei älteren Kindern im Schülerhort aus. In diesem Hort betreut sie Schüler der 1. bis 4. Klasse nach der Schule und beaufsichtigt Schularbeiten. Bei den Älteren muss sie noch konsequenter vorgehen, wie sie betont. Entweder nimmt sie die Schüler aus der Gruppe heraus und macht mit ihnen andere gemeinsame Arbeiten oder führt bei Unbelehrbarkeit eine Strichliste. Bei 5 Strichen (Vorfällen) werden die frechen Kinder nicht ins Hallenbad oder zu Ausflügen mitgenommen.

Sie beobachtete auch eine zunehmende Aggressivität bei den Kindern. Oft haben die Eltern keine Zeit für ihre Sprösslinge, geben ihnen wenig Zuneigung und sind auch nicht konsequent genug in der Erziehung. „Wenn ein Kind 3-mal Nein sagt, dann geben die Eltern nach. Sie wollen ihre Nerven schonen und kein Geschrei hören“, äusserte meine Bekannte. Oft haben die orientierungslosen Kinder keine guten Vorbilder.

Kein Wunder, dass so genannte „Super Nannys“ und Familienhelfer Hochkonjunktur haben. Die Fachleute helfen Familien, die mit ihren Kindern nicht mehr klar kommen. Etliche Fälle werden jetzt vom Fernsehen bei RTL und ZDF laufend ausgestrahlt. Die Sendungen haben hohe Einschaltquoten.

Früher war es natürlich ganz anders. Da auch wir keine Engel waren, bekamen wir des Öfteren eins hinter die Löffel. Auch in der Schule wurde nicht lange gefackelt. Ich kann mich noch erinnern, als ein Lehrer mit einer vorwitzigen Bemerkung von mir offensichtlich nicht zufrieden war. Er packte seine Haselrute aus und verabreichte einige Hiebe auf meine inneren Handflächen. Als ich stolz und pfeifend wieder auf meinen Platz zurückging — ich wollte mir den Schmerz nicht anmerken lassen —, holte mich der erzürnte Lehrer wieder zurück in die Nähe des Pultes und schlug nochmals kräftig zu. Aber all diese Handgreiflichkeiten haben mir, und auch anderen, nicht geschadet. Im Gegenteil, ich wurde zukünftig vorsichtiger mit unpassenden Bemerkungen.

Aber, wie wir gesehen haben, gibt es andere Möglichkeiten, aufmüpfige Kinder zu bändigen. Dazu bedarf es keiner Schläge, keiner Handschellen und keiner Einsperrungen. Wie krank muss eine Gesellschaft sein, die zu solchen Mitteln greift? Wer möchte schon freiwillig in solch einem dekadenten Land leben, in dem die Polizeiwillkür solche seltsamen Blüten treibt?

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