Textatelier
BLOG vom: 28.12.2004

Die Ukrainer sind tatsächlich stark

Autor: Walter Hess

„Das Volk hat seine Stärke gezeigt“, sagte der ukrainische Wahlsieger Viktor Juschtschenko im Hauptquartier seines Wahlstabs in Kiew zu seinen Anhängern. Er hatte gerade die Wahlwiederholung gewonnen, versprach eine neue Ära einer grossen Demokratie „ohne Folter und Lügen“ – trotz der Einflüsse aus dem amerikanisierten Westen, dem er sich zuwendet, möchte man beifügen. „Kutschma, Metwetschuk und Janukowitsch sind Vergangenheit“, fügte der neue Präsident bei, gezeichnet von Müdigkeit und der Dioxin-Vergiftung, mit der ihn seine Gegner beseitigen wollten.

Das Volk der Ukrainer hat die Sympathie der Welt erworben und verdient. Es setzte sich mit einem unbeschreiblichen persönlichen Einsatz gegen die Wahlfarce vom 21. November 2004 zur Wehr und erzwang eine Wahlwiederholung. Davon könnte sich die Bevölkerung der USA ein Stück abschneiden. Zur Erinnerung: Nach der Wahl von Präsident George W. Bush im Jahr 2004 wurde nachgewiesen, dass die Wahl in Florida kriminell und entscheidend von den Offiziellen in der Staatskanzlei des Bush-Bruders Jeb manipuliert worden war. Und das Volk demonstrierte nicht tagelang auf den Strassen; es war längst daran gewöhnt, an der Nase herumgeführt zu werden. Wahlverfälschungen sind dort üblich, insbesondere um ethnische Minderheiten wie Schwarze von den Urnen fernzuhalten. Und bei den Wahlen 2004 waren dubiose Wahlmaschinen in Betrieb – und wiederum störte das kaum jemand. Auch in Staaten, in denen die Demoskopen einen Kerry-Sieg vorausgesagt hatten, gewann Bush. Rund 30 % der Stimmen, welche in die manipulierbaren Touchscreen-Geräte (die auf Berührungen reagieren) eingegeben wurden, konnten nicht nachgezählt werden – offenbar können die Eingaben nicht gespeichert werden … Volk und Medien empörten sich kaum.

Wahlen seien ein Abbild der Gesellschaft, sagt man zu Recht. Das spricht nicht eben für die US-Amerikaner. Doch deren Stärke liegt darin, sich in demokratische Gepflogenheiten in anderen Ländern einzumischen, Kommentare zu verbreiten, Revolutionen anzuzetteln und Stimmung für Politiker zu machen, die am US-Gängelband sind. Russlands Regierung, moralisch ebenfalls nicht über alle Zweifel erhaben, hat den USA entsprechende Vorwürfe gemacht sowie auf die Gefahr der Herbeiführung „endloser Konflikte“ hingewiesen und dies am Beispiel des früheren Jugoslawien illustriert.

In der Ukraine hatten sich die Leute für einen pro-russischen (Janukowitsch) oder einen pro-westlichen EU-/US-Kurs (Juschtschenko) zu entscheiden. Was aus dem westlichen Demokratiemuster im „globalen Dorf“ geworden ist, bietet wenig Verlockendes, und wie sich Russland entwickelt, ebenso wenig. Am Ende war in der Ukraine wahrscheinlich die persönliche Integrität Juschtschenkos entscheidend, sein Charakter. Ein starker Mann, der sich nicht unterkriegen lässt.

Mitte 1995 habe ich die Ukraine bereist und in Kiew und anderen Gebieten, insbesondere im Einflussbereich von Tschernobyl (Katastrophenjahr: 1986), Radioaktivitätsmessungen vorgenommen (die höchsten Werte ergaben sich eindeutig im Flugzeug; Kiews Belastung war damals wieder im normalen Rahmen). Die Reise führte auf dem Dnjepr, dem drittlängsten Fluss Europas, südwärts von Kiew bis Odessa. In verschiedenen Dörfern konnte ich mich mit einheimischen Menschen unterhalten, die immer wieder auf die verbreitete Korruption und politische Ungewissheiten hinwiesen.

In den letzten Wochen und Tagen habe ich oft an diese Ukraine gedacht, an dieses riesige „Grenzland“ (so die Bedeutung des Namens) mit seiner urwüchsigen Bevölkerung, seiner reichen Kultur mit dem Kosaken-Mythos, dem einst freiesten Volk auf Erden. In den letzten 14 Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung (1991) konnte sich in dieser Ukraine trotz der nachwirkenden historischen Zweiteilung wieder langsam ein Nationalbewusstsein einstellen. Die Nachwirkung der Trennung des Grenzlands durch den Dnjepr ist allerdings noch zu spüren: linksufrig war Russland an der Macht, rechtsufrig waren es abwechslungsweise Litauen, Polen oder Österreich.

In Zukunft dürfte die amerikanisierte EU in dieser Ukraine die bestimmende Macht sein – mit den Hauptstädten Brüssel und Washington. Die harten Ukrainer werden auch dieses Elend überstehen, hätten aber ein angenehmeres Schicksal verdient.

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