Bilanz 2004: Überhaupt nichts im Griff
Autor: Walter Hess
Gewiss, das Jahr 2004 bestand nicht allein aus diesem grauenvollen Seebeben im Indischen Ozean, das uns in den letzten Tagen beschäftigt und betrübt hat; es gab auch schöne, angenehme Zeiten, die jedermann auf seine individuelle Weise erlebt hat. Aber für unsere Erdkugel war dieses Jahr keines, das zu Optimismus in Bezug auf ein Anwachsen des menschlichen Verantwortungsbewusstseins, des vernünftigen Handelns und des fälligen Umdenkens Anlass gegeben hätte.
Weltpolitisch war das Jahr vom Krieg der USA gegen den Irak geprägt, gegen ein Land, in dem es – im Gegensatz zur USA – keine Massenvernichtungswaffen gab, das nicht mehr von Saddam Hussein regiert wird und in dem dennoch die Zerstörungsmaschinerie weiterrollt. Der Schlamassel ist grösser als je zuvor. Wahrscheinlich ist es schon so, wie die am 28. 12. 2004 im Alter von knapp 72 Jahren an Brustkrebs verstorbene US-Schriftstellerin, Essayistin und Denkerin Susan Sontag einmal sagte, Amerika sei „auf Völkermord gegründet“ und die „weisse Rasse der Krebs der Geschichte“. Wir hätten diese wichtige, mutige und ehrliche Stimme noch lange gebraucht. Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor einer Frau, die es wagte, Wahrheiten öffentlich auszusprechen und selbst an Israels Verhalten offen Kritik zu üben, obschon sie aus einer bürgerlich-jüdischen Familie stammte.
Susan Sontag, die eigentlich Susan Rosenblatt hiess, sagte Wahrheiten wie diese: Die Terroranschläge auf die New Yorker WTC-Zwillingstürme seien am 11. September 2001 nicht, wie die Bush-Regierung behauptete, gegen Zivilisation und Freiheit gerichtet gewesen, sondern schlicht die Folge der US-Aussenpolitik. Die Pressionen der US-Medien, insbesondere des TV-Senders CNN, der sich als Regierungssprachrohr gebärdete und zusammen mit praktisch allen Medien im Lande patriotische Hysterie verbreitete, setzten ihr derart zu, dass sie zu einer Entschuldigung genötigt wurde. Es durfte ja nicht sein, dass jemand den Terrorismus dadurch bekämpfen wollte, indem man dessen politische und ökonomische Ursachen überwindet, wie es Sontag forderte und es tatsächlich nahe liegend wäre. „Das ist das Unglück der Könige, dass sie die Wahrheit nicht hören wollen“, rief der preussische linksliberale Arzt und Politiker Johann Jacoby (1805−1877) dem König Friedrich Wilhelm IV. nach, als dieser den Raum aus Protest verliess. Jacoby hatte unbeschränkte Redefreiheit gefordert.
Wer die Redefreiheit in einem totalitären Land wie den USA nutzt, wo sie nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich ist, verdient Respekt. Das sind Raritäten. Das Hauptproblem ist heute nicht allein der fehlende Mut bei Intellektuellen, unbequeme Angelegenheiten beim Namen zu nennen, sondern der Umstand, dass viele existenziell wichtige Dinge verheimlicht, totgeschwiegen werden und damit der breiten Diskussion beinahe entzogen sind: Dazu gehören die Folgen der Gentechnologie vor allem im Nutzpflanzenbereich, die der Welt von Amerika aus förmlich aufgezwungen werden, auch dem Irak (über die „Verordnung 81“, die faktisch Gesetzeskraft hat), damit immer mehr Länder in die US-Abhängigkeit kommen: Gensaatgut lässt sich nicht erfolgreich vermehren und muss immer wieder nachgekauft werden. Und dass die Gentechnik den Agrogifte-Einsatz vermindern würde, hat sich als falsch erwiesen; das Gegenteil trifft zu. Doch ihre Ausbreitung ist nicht zu stoppen.
Zu den weitgehend unbeachteten, medial ausgeblendeten Erscheinungen gehören der Fortgang des Artensterbens wie auch die Folgen des zunehmenden Elektrosmogs als Folge der meist sinnleeren Telekommunikation mit ihren üppig wuchernden Mobilfunkanlagen, unter dem auch Tiere, insbesondere Vögel, leiden.
Doch der risikobereiten Hochdosis-Gesellschaft, die noch mit ein paar willkürlich angesetzten Grenzwerten über ihr Elend hinweggetröstet wird, scheinen diese Kommunikationsmittel, abgesehen von ein paar Handyanrufen, ausgerechnet dann nichts zu nützen, wenns darauf ankommt, zum Beispiel beim eingangs erwähnten Seebeben vom 26.12.2004. Es ist geradezu unglaublich, dass dieses Beben als Folge der Erdplatten-Bewegungen nicht wenigstens ansatzweise vorausgesehen werden konnte.
Die tektonischen Platten bewegen sich noch immer gegeneinander, wodurch sich gewaltige Spannungen aufbauen. Weltweit werden alle Bewegungen der Erdkruste exakt gemessen; allein in Japan gibt es über 300 Messstationen. Und ebenso unverständlich ist es, dass nach dem Beben keine Warnungen ausgesandt wurden, zumal die Flutwellen doch einige Zeit brauchen, bis sie an entfernten Stränden ankommen. Ich kenne Wissenschaftler, die darüber nur den Kopf schütteln können. Unsere Priorität besteht zurzeit im Nachschauen, was für Flüssigkeiten es auf dem Saturnmond Titan gibt...
Wir leben in einer Welt der gefälschten Bilder und verstümmelten Wahrheiten, wie es in der Laudatio treffend hiess, die für Susan Sontag gehalten wurde, als sie im Oktober 2003 in Frankfurt am Main den Friedensnobelpreis entgegennehmen durfte – ohne offizielle US-Beteiligung notabene. Und es ist eine Welt der verschobenen Proportionen, wie man beifügen möchte.
Wird 2005 wenigstens einiges von alledem gerade rücken können? Es wäre schon viel, wenn man diesbezüglich wenigstens ein bisschen Hoffnung haben könnte. Den Mut dazu und die Kraft für Massnahmen, Ihr Lebensumfeld nach Ihren Wünschen naturfreundlich zu gestalten, wünsche ich Ihnen.
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