Textatelier
BLOG vom: 22.07.2015

Rumänien (4): Der morbide Charme maroder Fassaden

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland


In den letzten Blogs über Rumänien habe ich über die Geschichte des Landes berichtet, über die Kultur, über die Landschaft mit dem Karpatenbogen, über Siebenbürgen, über Sehenswürdigkeiten.

Alles das kann eine Anregung sein, ins Land zu reisen. Rumänien hätte mehr Touristen verdient. Die Menschen sind freundlich, die Landschaft vielseitig, die Kultur sehenswert. Rumänien bietet etwas für viele Geschmäcker: einige grosse Städte, hübsche Ortschaften, malerische Dörfer, Meeresstrand, umwerfend schöne, oft unberührte Natur, nicht nur im Landesinneren, sondern auch im Donaudelta und in den Wäldern, mit Tieren, die bei uns nicht vorkommen – oder nur im Zoo.

Rumänien ist Teil der Europäischen Union. Es hat (noch) seine eigene Währung, den Lei oder RON. Der Lebensstandard in Rumänien ist niedriger als in den Staaten des Nordens und Westens von Europa.

Wenn man durchs Land fährt, fühlt man sich manchmal in alte Zeiten zurück versetzt. Das Pferdefuhrwerk, also ein Pferd, das einen Wagen zieht, sieht man häufig auf den Landstrassen. Dort kann man Viehherden begegnen, Schafen, Pferden, Kühen oder Ziegen. Es gibt nur ein kurzes Stück „echte“ Autobahn, von Bukarest bis Pitesti, 114 km lang. In Pitesti wird der Dacia/Logan hergestellt.

Andere Strassen sind einigermassen gut ausgebaut, die meisten aber nicht. Asphalt mit Löchern darin sind normal, Schlaglöcher ebenso. Der Weg nach Viscri (Deutsch-Weisskirch) zum Beispiel war übersät damit und nur befestigte Erde, da half auch kein galantes Herumkurven, man musste hindurch. Automobile, vor allem deren Achsen, werden stark beansprucht. So war es auch nicht verwunderlich, dass es sehr viele „Vulkaniseur“-Werkstätten gibt, die sich den defekten Reifen widmen. Als kleine Wiedergutmachung für die holperige Fahrt entdeckten wir ein Dorf wie vor Hunderten von Jahren. Die Strassen sind gesäumt von Bauernhöfen, die eine charakteristische Bauweise vorweisen: eine recht schmale Front zur Strasse hin, daneben ein grosses Tor.

Geht man hindurch, entdeckt man einen nach hinten ausgebauten geräumigen Hof mit Wohnungen für jung und alt, landwirtschaftlichen Gebäuden und Ställen für das Vieh. Die Häuser sind ohne Abstände nebeneinander gebaut, eine durchgängige Strassenfront. Der eine oder andere Eigentümer hat darin Fremdenzimmer eingerichtet. So haben wir im ehemaligen Wohn-/Schlafzimmer der Grosseltern geschlafen, ein grosser Raum, geschmückt mit alten Möbeln und Bildern aus vergangenen Zeiten.

Der Schrei eines Hahnes morgens um 5 Uhr hat mich mehrmals aus dem Schlaf gerissen. Das Bellen und Jaulen herrenloser Hunde des Nachts muss man erdulden können. Abends wird das Vieh durch die Strasse getrieben und findet allein den Eingang zum heimischen Hof.

In vielen etwas grösseren Orten stehen 100 und mehr Jahre alte Gebäude neben den Bausünden und Neubauten der vergangenen Jahrzehnte, auch nach der Diktatur. Ich habe für den Anblick der älteren Gebäude eine Bezeichnung gefunden: „Der morbide Charme der maroden Fassaden“.

Ein „schönes“ Beispiel ist Sinaia. Es ist ein Ferienort, etwa 800 m hoch gelegen,  inmitten von aufragenden Bergen. Man kann mit einer Seilbahn in 2 Etappen bis auf 2000 m fahren und dort Wanderungen unternehmen, auch wieder bergabwärts. Es gibt Skilifte und im Winter ist Sinaia ein beliebter Ski-Ort, kaum 130 km von Bukarest entfernt.

Am Rand der Stadt ist das Schloss „Peles“, (erbaut zwischen 1873 und 1914), auch das „Neuschwanstein Rumäniens“ genannt. Es sieht gepflegt und restauriert aus. Nicht weit davon entfernt findet man ein Kloster, in dem neben der grösseren Kirche auch die kleine Marienkirche von 1695 erhalten und sehenswert ist. Die Mönche sorgen dafür, dass das ganze Gelände gut gepflegt wird.

Der Ort selbst hat viele alte Gebäude, eine vormalige Poli-Klinik aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, Wohnhäuser und Hotels, die 100 oder mehr Jahre alt sind. Aber nur die wenigsten sind restauriert, an den meisten bröckeln die Fassaden. Entweder hat der Eigentümer kein Geld dazu oder die Eigentumsverhältnisse sind, nach der Enteignung im kommunistischen System, immer noch nicht wieder geklärt. Neben diesen alten Gebäuden stehen moderne Betonklötze, meist grosse, mehrstöckige Hotels und Geschäfte. Sie passen nicht ins eigentliche Ortsbild, sie sollen ihm Einnahmen aus dem Tourismus bescheren. Das ist schade. Der Blick auf den Reiz der alten Gebäude fehlt, auch der Gedanke daran, dass gerade das Touristen anlocken könnte.

Auf der Fahrt entdeckte meine Frau einen schwarzen Bären am Wegesrand. Das sei hier nichts Besonders, wurde uns zugesichert, es gibt noch einige Tausend in den Wäldern.

Rumänien ist eine Reise wert. Die Entfernungen zu Italien, Österreich, der Schweiz, Deutschland und Frankreich beispielsweise sind nicht so gross, mit dem Flugzeug ist man in 2 ½ Stunden in Frankfurt. Die Preise sind noch erschwinglich, wenn auch die Kosten für Benzin den unseren entspricht, kann man doch preiswert übernachten und essen. Viele Menschen sprechen deutsch oder englisch oder italienisch.

Ich habe vor, wieder hinzufahren. Das Donaudelta mit vielen Vogelarten reizt mich, die Moldauklöster mit Aussenfresken und auch der Strand von Constanta. Es war eine gute Entscheidung als Reiseziel!


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