Textatelier
BLOG vom: 19.09.2015

Flüchtlingspolitik und die Moral

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 16a, besagt, dass politisch Verfolgte Asylrecht geniessen, aber der Verfolgte kann sich nicht darauf berufen,

„der aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.“ 

Das „Schengener Abkommen“, ein „Übereinkommen zur Durchführung von Schengen vom 14.06.1985“ zwischen den Ländern der Europäischen Union („Vertragsparteien“ genannt), eigentlich ein Abkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, sagt im Artikel 30 Absatz e) aus:

„Ist der Asylbegehrende in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien eingereist, ohne im Besitz eines oder mehrerer gültiger Grenzübertrittspapiere zu sein, die von dem Exekutivausschuss bestimmt werden, so ist die Vertragspartei zuständig, über deren Aussengrenze der Asylbegehrende eingereist ist.“

Um nach Deutschland oder nach Österreich zu kommen, ist in jedem Fall der Grenzübertritt aus einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften erforderlich. Nach diesen Bestimmungen könnten diese Länder die Asylbegehrenden wieder über die Grenze zurück schicken.

Die überwiegende Zahl der Asylbegehrenden haben diese Länder, also z.B. Deutschland und Österreich, über Griechenland, Italien, Ungarn oder andere Vertragsparteien erreicht, die nach dem „Schengener Abkommen“ und der „Dublin III-Verordnung“ zuständig sind.

Der Fall ist jetzt eingetreten, dass sich die Länder, die die Aussengrenze bilden, nicht an das Abkommen halten, sich nicht danach richten, sich selbst als überfordert einstufen oder aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage sind, sich daran zu halten.

Für diesen Fall gibt es keine Bestimmung. Ebenso wenig gibt es eine Antwort darauf, wie denn zu verfahren sei, wenn die Asylbegehrenden sich ein bestimmtes Land als Bestimmung erkoren haben und davon nicht abgehen wollen, also die Einreise mehr oder weniger erzwingen, weil sie in grosser Zahl sind und die „Durchreiseländer“ nicht in der Lage oder willens sind, „geeignete Massnahmen“ zu ergreifen. Für den Fall eines „Massenexodus“ aus einem Kriegsgebiet, den man durchaus als „Völkerwanderung“ bezeichnen könnte, gibt es kein Abkommen.

Deutschland ist das „Land der Hoffnung“ für die meisten Flüchtlinge geworden. Dabei sind die Nettovermögen der deutschen Haushalte im EU-Raum nach einer Studie der Europäischen Zentralbank (EZB) nach der Statistik von 2010 die niedrigsten in allen damals erfassten Ländern.

Aber es hat sich herumgesprochen, dass Deutschland die Asylsuchenden nicht in die zuständigen EU-Länder zurückschickt. Viele Syrer haben bereits Angehörige in Deutschland, viele glauben, hier Arbeit und ein Leben in Wohlstand zu finden.

Ebenso haben sie auf ihrer Odyssee feststellen müssen, dass sie in einigen Ländern der EU ganz und gar nicht willkommen sind. Das krasseste Beispiel ist Ungarn.

Handelt die Regierung der Bundesrepublik klug, wenn sie die Flüchtlinge, es wird davon ausgegangen, dass es allein in diesem Jahr eine Million sein werden, die einen Asylantrag stellen, aufnimmt?

Ich berufe mich bei der Erörterung dieser und weiterer Fragen auf André Comte-Sponville, der in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemässen Leben – Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte“ wiederum die Philosophie der vergangenen 2000 Jahre mit einbezieht.

Immanuel Kant war der Ansicht, es sei besser, unklug als pflichtwidrig zu sein. Es stellt sich die Frage, ob es Pflicht ist, Flüchtlinge aufzunehmen. Beziehe ich mich auf meine oben dargestellten Gesetze und Vereinbarungen, kann ich sie nicht erkennen. Max Weber zieht stattdessen die „Verantwortungsethik“ vor, eine Moral, die zwar nicht ihre Prinzipien aufgibt, aber auch nach den voraussehbaren Folgen des Handelns fragt:

„Eine gute Absicht kann katastrophale Folgen zeitigen, und die offensichtlichste Lauterkeit der Beweggründe hat noch nie das Schlimmste auszuschliessen vermocht.“ (S. 46)

Aber was ist, wenn die Folgen heute noch gar nicht absehbar sind? Auf einige möglicherweise eintretende Konsequenzen habe ich in meinem Blog „Willkommenskultur und Aussichten“ bereits hingewiesen. Cicero bemerkt, „prudentia kommt von providere“, also Klugheit im Sinne von Vorsicht.

Handelt die Bundeskanzlerin Angela Merkel klug? Nach Augustinus vielleicht, wenn er sagt, dass „die Klugheit hellsichtig wählende Liebe“ sei. Was immer man unter „hellsichtig wählend“ verstehen will. Sie geht mit ihrer Politik ein Irrtumsrisiko ein, ob aus Menschlichkeit oder aus Verstand, bleibt mir als Bürger verborgen.

Comte-Sponville schliesst aus den Überlegungen, dass die Klugheit auch die Zukunft mitbedenkt, es sei gefährlich und unmoralisch, sie zu vergessen, und:

Die Klugheit ist diese paradoxe Erinnerung an die Zukunft oder, besser gesagt, diese paradoxe und notwendige Treue zur Zukunft.“ (S. 51)

Der Autor zitiert Spinoza mit dem Ausspruch „Caute“, d.h. „sei auf der Hut“ und ergänzt:

„Es ist die Maxime der Klugheit und Vorsicht und man muss auch der Moral misstrauen, wenn sie über ihre Grenzen und Ungewissheiten hinweggeht. Der gute Wille ist keine Garantie, und das gute Gewissen keine Entschuldigung. – Moral ist nicht genug für die Tugend: es braucht auch Verstand und Hellsichtigkeit.“ (S. 52)

Jetzt könnte man als Bürger eines Landes, in dem die Regierung demokratisch gewählt wird, denken, dass die Regierung schon wisse, was sie tue, und dass sie die Konsequenzen ihres Tuns schon verantworten könne. Aber kann sie das wirklich? Ich bin mir da überhaupt nicht sicher! Denn die Konsequenzen sind nicht absehbar und gehen weit in die Zukunft, so weit, dass die heute entscheidenden Politiker längst nicht mehr in der Verantwortung und an der Regierung sein werden.

Ein weiteres Kapitel im Buch von Comte-Sponville behandelt „die Gerechtigkeit“. Haben die Flüchtlinge nicht alle ein Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit? Hier bringt er „die Billigkeit“ ins Spiel, und dabei ist nicht der umgangssprachliche Begriff „billig“ für preiswert oder günstig gemeint, sondern der Rechtsbegriff „unter dem eine gerechte oder angemessene Anwendung allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen im Einzelfall“ (Wikipedia) gemeint ist. Er zitiert Aristoteles, der in seiner „Nikomachischen Ethik“ ausführt:

Wer solches Recht will, wählt und übt, und wer nicht das Recht zuungunsten anderer auf die Spitze treibt, sondern vom Rechte, auch wo er es auf seiner Seite hätte, nachzulassen weiss, der ist billig und sein Habitus die Billigkeit, die eine Art Gerechtigkeit und kein von ihr verschiedener Habitus ist.“ (S. 104/105)

Der Begriff „Barmherzigkeit“ kommt ebenso mit in die Diskussion, und „sie ist nicht möglich ohne Intelligenz, ohne Klugheit, ohne Mut, ohne Treue, ohne Grossherzigkeit, ohne Toleranz. - Hier wird sie eins mit der Gerechtigkeit.“ (S. 105)

War es also ein Akt der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen? Oder hat die Bundesregierung das Recht „auf die Spitze“ getrieben, wie es Aristoteles ausschliessen will, wenn er von Gerechtigkeit schreibt?

Wie schon beschrieben, wird der Zustrom von Flüchtlingen von Teilen der Bevölkerung als ungerecht eingestufte Einschränkungen und Konsequenzen ergeben.

Gerechtigkeit für alle zu erreichen ist eine Illusion, denn:

„Die Welt leistet Widerstand, der Mensch auch. Man muss ihnen widerstehen – und zuerst der Ungerechtigkeit, die jeder in sich trägt, die jeder ist. Darum wird der Kampf um die Gerechtigkeit nie enden. Jenes Reich ist uns verwehrt.“ (S. 105)

Ist es nicht ein Akt von Grossherzigkeit, den Flüchtlingen Zuflucht zu gewähren?  Comte-Sponville zitiert wieder Aristoteles:

Grossherzigkeit ist das Gegenteil von Egoismus, so wie die Seelengrösse das Gegenteil von Kleinlichkeit ist. Beide Tugenden sind ein und dasselbe, genau wie die beiden Fehler. Was ist kleinlicher als das Ich? Was ist schändlicher als der Egoismus? Grossherzig sein bedeutet, frei von sich selbst zu sein, frei von seinen kleinen Feigheiten, seinen kleinen Besessenheiten, seinen Zornanfällen, seinen kleinen Eifersüchteleien.“ (S. 121)

Descartes sieht nach Comte-Sponville darin das höchste Gut für jedermann, und es besteht, wie Descartes ausführt, „in einem festen Willen, gut zu handeln, und in der Befriedigung, die daraus erwächst.“ (S. 115)

Ganz gewiss kann man das Willkommen, die spontane Hilfsbereitschaft von vielen Menschen, die die Flüchtlinge am Tag ihrer Ankunft begrüssen, als grossherzig ansehen.

Bei Epikur findet sich die Aussage:

„Nicht durch Mitklagen, sondern durch mitsorgende Hilfe beweist man dem Freunde seine Anteilnahme.“ (S. 358) Und bei Cicero:“ Wir sind nicht verpflichtet, die Sorgen der anderen zu den unseren zu machen; sondern, wenn wir es können, die anderen von ihren Sorgen zu befreien.“ (S. 129)

Sind wir wirklich verpflichtet? Und ist bei einem Gefühl der Verpflichtung wirklich noch Grossherzigkeit vorhanden?

Wir werden uns also hüten, Mitleid mit Gönnerhaftigkeit oder, im heutigen karikierenden Sinn dieser Worte, mit Wohltätigkeit, Mildtätigkeit oder Almosen-Geben zu verwechseln. Man kann z.B. mit Spinoza der Meinung sein, dass nicht der einzelne, sondern der Staat sich um Notleidende zu kümmern habe, dass es also besser sei, gegen das Elend politisch statt mildtätig anzugehen. Ich würde diese Meinung teilen. – Ein soziales Problem verlangt eine soziale Antwort.“ (S. 138)

Wie man es auch sieht, die Situation, wie sie sich in diesen Tagen und Wochen ergibt, ist, und dieser Begriff hat die Chance, „Wort des Jahres“ zu werden, mit „Flüchtlings-Dilemma“ treffend beschrieben. Der Aufwand der Kommunen und Gemeinden, der betrieben werden muss, um den Flüchtlingen menschenwürdig zu begegnen, mit allen Konsequenzen der Unterbringung und Versorgung, ist ebenso ein Dilemma, wie die Entscheidung der Bundesregierung, sie alle ins Land zu lassen.

Jetzt schieben sie sich jeder gegenseitig die Verantwortung zu, weil eine Situation eingetreten ist, für die es keine Vorsorge gab. Das ethische Dilemma hat zu einem sozialen Dilemma geführt.

„Die ökonomische Beschreibung sozialer Dilemmata besteht darin, dass das interessenbedingte Handeln der Gruppen zu sub-optimalen Zuständen führt.“ (Wikipedia)

Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dieses Dilemma schnellstmöglich zu lösen.

Denn: die Bundesregierung hat durch ihre Entscheidung Fakten geschaffen, die Konsequenzen erfordern, von allen beteiligten Seiten. Ob die Entscheidung klug war, mag dahingestellt sein, hier geht es um Menschen, die alle Strapazen eingegangen sind, um dem Elend zu entgehen, und nicht zuletzt die Politiker sind jetzt gefordert, ihnen so lange Hilfestellungen zu geben, bis sich die Situation verbessert hat, sei es im Herkunftsland oder in den Ländern, in denen die Flüchtlinge untergekommen sind.

 
Quellen
Comte-Sponville, André, Ermutigung zum unzeitgemässen Leben – Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1996

12.09.2015  Die „Willkommenskultur“, die Freuden und die Aussichten

 
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