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BLOG vom: 28.02.2013

Verständigung in Indien: Wenig Worte und viele Gesten

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D, zurzeit in Rajasthan (Indien)
 
Es ist immer wieder faszinierend, wie viel Kommunikation möglich ist, wenn die Gesprächspartner unterschiedliche Sprachen sprechen und der eine nur ein paar Worte von der Sprache des anderen kennt.
 
In einem kleinen unscheinbaren Ort in Rajasthan (Indien) mit dem hübsch klingenden Namen Jhunjuhu wollte ich mir einen hinduistischen Tempel ansehen. Er ist Gott Shiva geweiht und steht abseits der Hauptstrasse. Man sieht eine Mauer und einen schön gestalteten Eingang und erreicht dahinter einen Innenhof, auf dem das eigentliche Heiligtum steht. Rechts vom Eingang auf breiten Marmorstufen sassen 4 Männer. Sie trugen die traditionelle indische Kleidung, einer davon war als Priester erkennbar. Sie sassen im Schneidersitz. Ich grüsste mit „Namaste“ hinüber, und der Priester, offensichtlich der Jüngste von allen, winkte mich heran, gab mir zu verstehen, dass ich meine Schuhe auszuziehen hätte, denn ich betrat den unmittelbaren Tempelbereich. Er lud mich ein, mich wie sie im Schneidersitz neben ihn zu setzen. Da ich diese Art zu sitzen nicht gewohnt bin und mich ein wenig ungeschickt verhielt, erzeugte das ein Grinsen auf den Gesichtern.
 
Nur der Priester sprach neben der hier gebräuchlichen Sprache Hindi ein paar Worte Englisch. Es waren wirklich nur ein paar Worte, was zur Folge hatte, dass das Gespräch ein wenig holperig verlief und durch allerlei Gesten ergänzt werden musste. Er zeigte auf sich selbst und sagte „Indien“, dann zeigte er auf mich. Klar, er wollte wissen, woher ich komme, und ich antwortete ihm. Er hatte offensichtlich nur eine vage Vorstellung davon, wo Deutschland liegt, aber deutsche Autos, vor allem Volkswagen, sind auch in Indien bekannt, ich erläuterte dadurch meine Antwort. Das wiederum führte zu einem Dialog über Autos. Er fährt einen Chevrolet. Dann erklärte er mir, dass er am 2. Februar 2013 in einem Bus mit 30 anderen Pilgern eine Reise zu einem Guru in Varanasi, dem bekannten Wallfahrtsort der Hindus am Ganges, gemacht habe. Er sagte „Ganga“, zeigte den Vorgang des Steuerns eines Fahrzeugs, bestätigte, als ich den Namen der Stadt hinzugefügt hatte. Ich verstand, dass er selbst am Steuer gesessen hatte, aber das war vermutlich nicht richtig.
 
Einer der Männer hatte auf einem Stück Zeitungspapier eine Mischung aus Tabak und, wie ich erkannte, Marihuana. Damit wurde von ihm eine kleine konische Röhre gestopft. Er zündete sie an der grösseren Seite an. Sie wurde am dünneren Ende mit einem kleineren, roten Tuch umwickelt, durch das der Rauch inhaliert wurde. Nach einem Zug wurde der Joint weitergereicht, auch mich lud man ein, mit zu rauchen. Da ich Nichtraucher bin und Rauschgiften aus dem Wege gehe, lehnte ich ab und erklärte das mit wenigen englischen Worten. Ich hatte den Eindruck, das sei verstanden worden, jedenfalls akzeptiert.
 
Das Gespräch ging weiter. Der Priester gab mir durch Gesten zu verstehen, er wolle wissen, ob ich verheiratet sei. Er zeigte auf mich und dann mit der Hand, die grösser und kleiner und noch kleiner wurde, neben mich; ob ich Kinder habe, und ich erklärte ihm das. Zunächst verstand er das Handzeichen für Kleinkinder nicht, aber dann mit den Gesten doch.
 
Ich fragte ihn ebenfalls, ob er verheiratet sei, und er gab mir zu verstehen, dass Hindupriester nicht heiraten. Dann fragte er mich nach meinem Glauben. Er zeigte auf sich selbst und sagte „Hindu“, dann auf mich und sagte ein Wort, das etwa „Esa“ hiess; das Wort „Jesus“ kannte er in Englisch nicht. Dass auch die Priester bei uns nicht heiraten, wusste er und sah sich in seinem Wissen bestätigt.
 
Ich malte mit der Hand eine Zahl in die Luft, zeigte auf mich. Es wurde verstanden, dass ich mein Alter meinte. Ich zeigte auf den Priester, er malte 36. Und so gingen wir durch die Runde der Männer, die zwischen 50 und 67 Jahre alt waren. Ich hatte meine Kamera dabei und macht Fotos von ihm und den anderen, die ich ihnen zeigte. Ich liess ein Foto vom Priester und mir zusammen machen. Er wollte die anderen Bilder im Speicher sehen.
 
Direkt vor dem Tempel hatte ich Opiumpflanzen vom Boden aufgelesen, die sowohl die blaue Blüte als auch die Früchte im reifen und schon verrotteten Zustand am Zweig hatten. Der Priester sah die Blüte und erklärte mir mit Gesten und wenigen Worten, dass man aus den Früchten so etwas Berauschendes ähnlich wie Marihuana mache. Ich erklärte mit Gesten und dem Wort „Police“, dass Rauschgift in Deutschland strafbar sei. Er zeigte, wie in Indien das Röhrchen vor der Polizei unter dem Gewand versteckt wird.
 
Meine Fotos aus New Delhi mit dem „Gate of India“ und mit einem grossen Grabmal, das „Humayun’s Tomb“, kannte er angeblich, meinte aber, letzteres sei das „Taj Mahal“, das allerdings nicht in New Delhi steht, sondern in Agra, ein Stück südwestlich der Stadt.
 
Dann wollte er wissen, was es für Geld in Germany gibt, und er verstand, dass der Euro auch in vielen anderen europäischen Ländern ein Zahlungsmittel ist. Er wollte wissen, wie der Kurs der Rupie zum Euro sei und fragte dann mit wenigen Worten, was ich jeden Monat verdiene und wie viel das in Rupien sei. Er zählte dabei die Monate auf. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass man das schwer vergleichen könne und dass das Leben in Deutschland teurer sei. Ob er das verstanden hat, glaube ich weniger.
 
Dann forderte er einen der anderen Männer auf, etwas zu holen. Nach einer Weile kam der Mann mit einer kleinen Digitalkamera wieder. Er sagte „we friends“, gab mir mehrmals die Hand, machte ein Foto von mir, liess eines von uns beiden machen und freute sich sichtlich. Er zeigte mir auf seinem Apparat die Bilder, die er von der Gruppe und dem Guru in Varanasi gemacht hatte und vergrösserte auf dem kleinen Monitor das Gesicht des Gurus. Das Wort „Guru“ kannte er nicht, aber er beschrieb ihn als das Ziel der Reise.
 
Die Männer wechselten ein paar Worte. Der Priester erklärte mir mit Handzeichen – er ahmte die Bewegungen eines Reiters nach –, dass auf dem Tempelgelände 2 Pferde seien. (Später las ich im Reiseführer, dass es hier sogar eine „Tempeltreppe für Pferde“ gibt.) Ich stand auf, ging um die Ecke, sah die Pferde und machte ein Foto, das ich ihm und den anderen zeigte. Er deutete auf sich selbst, machte dann die Geste des Reitens mit Zügeln nach. Durch diese Darstellung verstand ich, dass er oft und gern reitet.
 
Es kam noch ein Gespräch über unsere Berufe zustande. Ich sagte „teacher“, ein Wort, dass er kannte, und er erläuterte, dass der älteste der Runde als Hausmeister in einer Schule gearbeitet hatte, „no teacher, in school“, und er zählte ein Getränk und anderes auf, dass dieser den Kindern verkauft hatte.
 
Eine weitere Begegnung: In Bikaner, der nächsten grösseren Stadt, lief ich zu einem grossen Gebäude mit einer riesigen Kuppel. Jedenfalls sah ich diese Kuppel, konnte aber zunächst den Zugang nicht finden. Nach einiger Zeit entdeckte ich ein Loch in der Mauer, die das Gelände zur Strasse hin abtrennte, stieg hindurch und konnte so näher herankommen.
 
Zunächst sah ich ein Haus. An der Beschriftung konnte ich erkennen, dass es ein Wohnheim („Hostel“) für Studenten der Tierkunde ist. Davor lagen ein paar Männer im Gras, einer sass auf einer Stufe. Ich machte meine Fotos. Dann fragte ich nach dem Gebäude. Es ist ein Hindutempel, und der junge Mann auf der Treppe machte mir ein Zeichen und bekräftigte dies mit dem Wort „closed“. Er konnte nur ein paar Brocken Englisch. Er erklärte mir, dass im Tempel alle Wände mit „paintings“ (Malereien) versehen seien.
 
Ich fragte ihn, ob er Student sei. Das verstand er wohl nicht und sagte „ja“. Später stellte sich heraus, dass er in der nahe gelegenen Kamelfarm, des grössten Zuchtbetriebs für Kamele in Indien, für die Versorgung der etwa 120 Tiere mit Wasser zuständig ist. Er zeigte mir nämlich ein Buch, in dem sein Dienst fein säuberlich eingetragen wird. Er erläuterte mir – auch das war mit wenigen Worten möglich –, dass ein Student der Tierkunde 8 Jahre studieren müsse, besonders, wenn er sich am Ende auf Kamele spezialisiere. Um Doktor der Humanmedizin zu werden, benötige man nur 5 Jahre. Das bekräftigte er mehrmals.
 
Die Tierkunde und Tierheilkunde betreffen alle Tiere, auch Insekten. Er zeigte auf Ameisen, die über die Steine liefen, und bestätigte meine Frage nach Haustieren wie Hunden und Katzen.
 
Er wollte wissen, was ich mache und ich sagte „Teacher German language“, was er verstand. Auch das Alter kam noch zur Sprache; er war gerade einmal 22, einer der Männer, grauhaarig und vom Militärdienst pensioniert, 48 Jahre alt.
 
Es waren Gespräche, bei denen trotz der schwierigen Verständigung eine ganze Reihe von Informationen ausgetauscht werden konnten, getragen von dem gegenseitigen Wunsch, etwas vom anderen, vom Fremden, zu erfahren. Da sich diesen Männer so eine Gelegenheit wohl selten ergibt, werden die Gespräche ganz bestimmt auch, vielleicht sogar mit Stolz, weitererzählt.
 
Ein Verständigung mit wenigen Worten ist trotz verschiedener Sprachen möglich!
 
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