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BLOG vom: 25.02.2009

Stadt-Flüchtlinge: Londons Suburbia – pro oder kontra?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Dem Wort „suburbia“ ist oft ein mokanter Unterton beigemischt. Das vorgetäuschte wonnige Leben der Hausfrauen in abgeschirmten städtischen Vororten ist recht seicht und monoton. Hinter Gardinen bespitzeln sie einander. Wo verbleibt Alison so lange, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hat? Sie gilt als kokett, und Liebschaften werden ihr angedichtet. Sybilles Mann kehrt immer später aus der City zurück. Gerüchte sind unterhaltsam, erwecken Tadellust und Neid. Bei Kevin, dem Damencoiffeur, wird nicht nur das Haar frisiert, sondern auch viel Klatsch eingefärbt.
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Suburbia entstand aus der Stadtflucht, als Familien, die es sich leisten konnten, ins Einzugsgebiet von London überwechselten – zuerst ins „Metro-Land“ rings um London – und dort ihre Häuser bauten. Satellitensiedlungen, wie „Welwyn Garden City“, entstanden. Das sich erweiternde Schienennetz, seien es Zug oder Metro, beschleunigte diesen Exodus aus der dichtbesiedelten Metropole. Dort im Grünen war die Luft gesund, und die Kinder hatten Spielraum im Garten. Hinzu kamen das verbesserte Strassennetz und erweiterte das Einzugsgebiet auf rund 35 Meilen um London herum. Der Brotverdiener pendelt zwischen London und seinem Familienheim hin und her. Das Familienleben war in diesen Oasen von Armut, Elend und Verbrechen abgesichert. Ein „Dörfligeist“ konnte sich entwickeln und förderte das nachbarschaftliche Zusammenleben. Dieser Drang, der Hektik der Städte zu entrinnen, ist nicht nur auf London beschränkt.
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So vorstellbar angenehm es sein kann, abseits einer Grossstadt wie London zu leben, schleicht sich leicht Langeweile ein, selbst und besonders in Rituale wie „coffee mornings“ – die Kaffeekränzli – der Hausfrauen während der Woche oder die „dinner parties“ übers Wochenende. Der Gesprächsstoff wird rasch fadenscheinig. Jetzt stecken wir fest im „Suburbia“, wenn es um den Einbau einer neuen Küche oder eines Badezimmers geht, unter vielen anderen Anschaffungen, die weder den Geist noch das Gespräch beleben und lediglich offenbaren, wer beneidenswert wohlhabend ist. Welche Henne darf die meisten Körner picken? Das entscheidet die Rangfolge im Sinne des englischen Ausdrucks „pecking order“. Und kommen die Gockel zu den Hennen übers Wochenende, wenn das beste Geschirr, Silberbesteck und Kristallgläser zur Schau gestellt sind, werden absehbar Liegenschaftswerte beurteilt, exotische Ferienziele angepeilt, die Ausgaben für Privatschulen verglichen. Solches Palaver erstreckt sich über mehrere Gänge, bis der Spitzenwein sauer wird. Man tut nur so, als ob man sich glänzend unterhalte. Das Lachen wirkt gezwungen.
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Inzwischen ist ein neues brandaktuelles Thema geboren: die Wirtschaftsflaute mit allem Drum und Dran. Niemand kann diesem Thema entrinnen, weder in der Presse, im Fernsehen noch sonst wer. Wer das Pech hatte, seine Stelle zu verlieren, trägt wieder seine alte Schulkrawatte und scharwenzelt um jene, die ihre Stelle mitsamt Boni erhalten haben. Die Hypothek ist untragbar geworden. Das Leben in der Suburbia wird zur Qual. Der Gärtner wird entlassen und das Kindermädchen ebenfalls. Niemand kann sich dort hinter der Anonymität verstecken. Die Ausgaben werden aufs Notwendigste abgemurkst, selbst das Taschengeld für Kinder wird gekürzt. Wer sein Haus los wird, sucht nach einer Mietwohnung in London, wo man ohne Auto auskommt und im Lidl einkauft. Ade Suburbia!
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Suburbia ist am schönsten, wenn die Sonne scheint. Während den trüben Wintermonaten und an Regentagen packen viele die Koffer und reisen in den Süden – in die ausländische Suburbia, etwa in die Villa einer befreundeten Familie. So wurde es gepflogen. Heute erlauben die knappen Finanzen bestenfalls hin und wieder ein verlängertes Wochenende, weitab von der Suburbia, in einem anderen Regenloch in Cornwall oder Wales. In der Pension trifft man andere in ähnlicher prekärer Situation, vielleicht sogar den Nachbar aus Surbiton. Wer hätte gedacht, dass auch er in der Patsche sitzt?
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Die Suburbia-Idylle ist zunehmend gefährdet. Gestern erfuhr der Leser des „Evening Standard“ schlagzeilenartig: „Man shot dead in gangland execution on a busy street in suburbia.“ Dieser Mord geschah in East Dulwich am helllichten Sonntagnachmittag (22. Februar 2009). Die ganze Nachbarschaft dieses von jungen Familien bevorzugten Vororts war entsetzt. Der Gefahrenherd ist in Stockwell, gleich neben East Dulwich. Immer mehr Radaumacher überfallen förmlich übers Wochenende das Suburbia, worunter auch das „Wimbledon Village“. Binge-drinking triumphiert.
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Hand aufs Herz: Wimbledon ist auch ein Suburbia, so wenig ich das als solches anerkennen will, dank der Stadtnähe. Auf einem Sprung bin ich mitten in Kensington oder Chelsea in der Nähe von Museen und Ausstellungen. Viele Leute aus aller Welt leben in Wimbledon. Das alles wirkt erfrischend und belebend auf mich. Wie beantworte ich die Frage: Suburbia pro oder kontra? Auf der Kontra-Seite vermeide ich möglichst von einem Suburbia ins andere zu geraten. Ich verlasse meine Zitadelle am liebsten, um die Innenstadt aufzusuchen.
 
Auf der Plus-Seite bin ich keineswegs abgeneigt, Ausflüge ins Land der Suburbia zu unternehmen. Nur lasse ich dort die typischen Suburbia-Orte wie Watford, Epsom, Hemel Hempstead, Slough u. a. links liegen. Ganz in der Nähe von London finden sich anmutige und besichtigungswerte Markt oder Kleinstädtchen, wie Dorking oder Maidstone, oft eingenistet in Landschaften, die meine Augen erfreuen und wo ich auf Wanderwegen meinen Gedanken nachhängen kann. Wie kommt es, dass ich immer von solchen Wanderungen träume und so wenige unternehme? Ich glaube, ich bin zu verstädtert. Selbst in den Suburbia ist es allen freigestellt – und das ist ein Plus – das zu wählen, was ihnen behagt.
 
Für mich sind heute „dinner parties“ tabu. Ich musste genug von diesen im wahrsten Sinne „durchstehen“, denn die Sitzfläche ist meistens schon beschlagnahmt. Stattdessen liebe ich den kleinen Kreis von Freunden und Bekannten, wo das Gespräch nicht versumpft, sondern munter aus den Quellen gemeinsamer Interessen sprudelt. Dann kehre ich wieder frohgemut in meine Zitadelle (von Stadt ableitbar) zurück.
 
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