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BLOG vom: 19.08.2011

Treffen mit Langzeitwirkung: Der Maler und sein Modell

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Diese einmalige Begegnung war vorübergehend und von kurzer Dauer, aber wirkte ein Leben lang nach. Macolm Macklin war ungebunden, Mitte 40, und hatte sich als Kunstmaler etabliert, was ihm sein Auskommen sicherte. Er malte Küstenlandschaften. Macolm, ein gebürtiger Irländer, malte während der Sommermonate am liebsten in Schottland. Im Herbst zog es ihn in den Süden.
 
Er hatte sich diesmal in einer Taverne in Chora Sfakion in Südkreta einquartiert. Er mochte die buckligen und kargen Hügel ringsum. An der Küste schaukelten die Fischerboote. Fischer besserten abends die Netze aus. Frühmorgens zog Macolm mit seiner Staffelei los, wanderte dem Küstenpfad entlang und brauchte nicht lang zu suchen, um einen malerischen Flecken zu finden. Wie es sich für einen Künstler ziemt, war er selbstgenügsam. Die Kunst glättete die Mängel in seinem Leben.
 
Nataliya
Die wenigen Touristen waren längst abgereist. Macolm war der einzige Gast in der Taverne, die in wenigen Wochen schliessen wird. Er zog es vor, seine Mahlzeiten auf der windgeschützten Seite zu essen, begleitet vom herben Landwein, Sonnenuntergang und Wellenspiel am Steinwall. Nataliya trug ihm die Speisen auf. Manchmal setzte sie sich zu ihm. Er genoss den Abendfrieden in ihrem Beisein. Er konnte sich mit ihr verständigen, denn sie hatte ein England-Jahr in Brighton verbracht. Ihr Mann war ein Fischer mit einer vom Wetter gegerbten Haut. Er verbrachte die Abendstunden im Kreis seiner Kumpane in einer anderen Taverne, nachdem die Netze für den nächsten Fischfang einsatzbereit gerollt waren.
 
Nataliya war eine schöne Frau, eher vollschlank und gemütsvoll. Sie trug ihr schwarzes Haar hochgesteckt und eine lange bunte Schürze. In ihrem Gespräch mit Macolm lachte sie immer wieder hellauf, wenn sie sich in ihr drolliges englisches Vokabular verwickelte und ihr Macolm galant aus der Patsche half. Sie gab ihm zum Dank etwas Sprachunterricht im heimischen Dialekt, was wiederum Heiterkeit auslöste, wenn er an der Aussprache scheiterte.
 
Es fiel Macolm auf, wie sich Nataliyas Gesicht ab und zu mit sanfter Melancholie umwölkte. Warum sie so gedankenverloren sei, fragte er sie. „Hier klebe ich“, sagte sie aufseufzend, und ihr Arm drehte sich im Halbkreis, gegen das Meer mit dem Küstenstreifen weisend, „jahrein, jahraus.“ Macolm nickte verständnisvoll und gab zu, dass er dieses Gefühl auch kenne, wenn in Schottland der Himmel grau verhangen ist und man meint, das ganze Meer ergiesse sich über die Landschaft … man möchte das Himmelzelt auseinanderreissen.
 
„Aber du bringst deine Farben in die Landschaft. Das ist dein Glück!“ erwiderte sie.
 
„Und du färbst mit deinem Lachen das Leben und trägst erst noch eine bunte Schürze. So möchte ich dich malen!“
 
Am Meer
Nataliya hatte ihr Lachen wiedergewonnen. „Warte, ich hole rasch meinen Skizzenblock“, sprang Macolm auf. Mit dem Kohlenstift zauberte er ihr Gesicht aufs Blatt und reichte es ihr. „Morgen werde ich dich in Farben malen“, sagte er entschlossen. „Aber nicht hier, sondern beim Meer …“
 
Nataliya fesselte ihn, und die Landschaft verschwand im Hintergrund. Ein Bild folgte dem andern. Ein Verhältnis zwischen dem Maler und seinem Modell begann sich zu formen und vertiefte sich. Bei einem Teich, der unterirdisch vom Frischwasser aus den „Weissen Bergen“ gespeist wurde, bat er sie: „Darf ich dich als Nixe malen?“ Sie zierte sich, ehe sie sich auszog. „Lass dein Haar fallen“, trat er auf sie zu und löste ihr Haar.
 
Wo Worte versagen, springt das Bild ein; es zeigte ihre voll erblühte Weiblichkeit. Die Sonne hatte sich gesenkt. „Ich wusste nicht, dass es so spät geworden ist“, sprang sie erschrocken auf, zog sich hastig an, wickelte ihr Haar hoch und entsprang ihm, drehte sich um und sagte noch: „Das darfst du niemand zeigen!“
 
Es dauerte eine Weile, bis er mit Staffelei, Malkasten und abgedecktem Gemälde die Taverne erreichte. An diesem Abend gesellte sie sich nicht an seinen Tisch. Schweigend räumte sie ab. „Ich hätte gedacht, dass wir mein Meisterwerk feiern würden“, murmelte er. „Wie das?“ schnappte sie. „Du hast mich wie ein Werkzeug benutzt. Eine Liebschaft mehr oder weniger lässt dich gleichgültig.“ Macolm schwieg betroffen.
 
„Du kannst mich aus der Taverne werfen“, wandte er sich am nächsten Tag an sie, „wenn du mir nicht glaubst … Ich habe dich nicht als Werkzeug benutzt! Unsere Begegnung ist für mich einzigartig, und ich weiss, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre ,Sevtas’ (Liebe) erfahren habe – eine platonische ,Sevtas’!“
 
„Und du hast mich nicht einmal geküsst!“ trat sie vorwurfsvoll auf ihn zu. Da blieb beiden nicht anderes übrig, als das Versäumte nachzuholen. „Komme mit mir nach Schottland. Du solltest hier nicht kleben bleiben.“
 
„Das ist ein verlockendes Angebot“, gab sie zu. „Davon kann ich bloss träumen – mehr nicht. Schade, dass wir uns nicht England begegnet sind.“
*
Viele Jahre sind seit ihrer Begegnung verstrichen. Die wahre „Sevtas“ überdauerte die Zeit. Das ist das gute Ende dieser Liebesgeschichte.
 
 
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23.12.2005: Eine Weihnachtsgeschichte: Das Bistro „Zum Déjeuner"
06.10.2005: Le Passe-muraille: Luftschlösser sind gratis zu haben